Bruchstücke der Gegenwart: Katharina Grosse, „It Wasn’t Us“

Zwischen Präsenz und vorbeigezogener Zukunft

Ein Eisberg, aus mehreren zersplitterten Schollen bestehend, entspringt der eindimensionalen, bunten Fläche am Boden. Zurück bleibt ein polygonales Loch, dessen Umrandungen zerfließen, in den Abgrund zu fließen scheinen. Schlieren ziehen aus der Fläche, nur eine kleine Spitze ragt über das Loch. Ein Teil hat sich herausgelöst, explosionsartig schiebt es sich in Richtung Ausgang. Wie in einem Zeitraffer können wir Besucher*innen diesem kurzen, flüchtigen Moment beiwohnen und, wie in einer Zeitkapsel gefangen, das Herausbrechen, den Ausbruch der Farbe aus der Fläche bestaunen.

Oder ist das Objekt nicht explodiert, sondern ausgetreten? Es zieht Schlieren hinter sich her, wie eine Schnecke ihre Schleimspur. Regenbogenartig bleiben die sich überlappenden, teils ineinander verschwimmenden Farbflächen zurück.

Eine Frau mit roter Maske, roter Tasche und roter Smartphone-Hülle wird eins mit der farbigen Skulptur, Farbtupfer wie das Grün, Blau, Rot, Gelb, Violett auf dem monströsen, scharfkantigen Klotz. Ein Stolpern. Rascheln einer Hose, fast sakrales Murmeln aus dem Hintergrund. Wir sind Zeug*innen eines Ausbruchs, eines monumentalen Augenblicks.

Katharina Grosses vielfarbige Styropor-Skulptur zieht Fotograf*innen in den Bann und eignet sich als Fotokulisse. Wir sehen ein buntes Spektakel, einen Erdrutsch und Vulkanausbruch in einem. Wir Besucher*innen sind Teil dieses Momentes, besuchen, dokumentieren den Fund, das bunte artifizielle Naturphänomen. Die multidimensionale Skulptur offenbart in ihrem Innersten Furchen und Höhlen. Verstecke, Geheimnisse. Von allen Seiten kann man, darf man sich dem Objekt nähern, es begutachten.

Zur rechten Seite sehe ich ein kleines Bruchstück des Eisbergs, das in die andere Richtung geflogen ist. Es liegt gleich am Eingang, doch die Menschen laufen daran vorbei. Das Spektakel wartet woanders. Es scheint einen Wettbewerb zu geben, wer mit welchem Foto das Geheimnis lüften kann. Anstatt das Objekt genau zu beobachten, werden Kameras gezückt, um dem bildhaften Wesen auf die Spur zu kommen. Ein doppelter Perspektivwechsel, womöglich erlernt durch die Zeit der Abstinenz.

Heute ist der erste Tag seit dem Lockdown, an dem der Hamburger Bahnhof seine Vorhänge für die allgemeine Öffentlichkeit aufzieht. Drei Monate in digitalen Sphären scheinen ein Verlangen multipliziert zu haben, analoge Erfahrungen ins Digitale zu verfrachten, um Ergebnisse zu zeigen à la Ich war da. Brauchen wir die Übersetzung ins Digitale, um eine Erfahrung zu verstehen? Oder verschieben wir damit die Auseinandersetzung ins Später? Was sagt es über unsere Beziehung zur Kunst aus, dass wir das Wahrnehmen in eine Warteschleife stellen, zu der wir vielleicht nie wieder zurückkehren?

Dabei ist Katharina Grosses Skulptur genau solch eine Momentaufnahme, die absolute Gegenwart, bevor das Objekt weiterzieht. Oder wegbricht. Denn durchbricht es nicht vielmehr die bunte Fläche am Boden? Und entflieht nicht, sondern wird angezogen und versucht nur, eben diesen ephemeren Moment des Verschwindens aufzuhalten?

Die absolute Gegenwart. 

Ich verlasse die Halle und und stehe draußen. Auch hier sehe ich die farbigen Schlieren auf dem Asphalt. Rechts neben mir zwei Beobachter*innen außerhalb einer reduzierten Absperrung, auf ihre Fahrräder gelehnt. Die Rieckhallen, die die Sammlung Flick beheimaten, haben ebenso Farbe abbekommen. Eine Zukunftsvision mit bunten Straßen und Fassaden. Eine Mutter zu ihrem Kind: Stell’ dir mal vor, alle Straßen wären so. Ja, was wäre, wenn?

In Zeiten, in denen Ausstellungsräume noch unzugänglicher sind, durch Zeittickets und reduzierte Besucher*innenzahlen, holt Katharina Grosse das Museum in den öffentlichen, urbanen Raum. Sie lässt so auch Nicht-Besucher*innen der Ausstellung im Inneren des Hamburger Bahnhofs an ihrer farblichen Vision, die auch draußen in allen Spektralfarben strahlt, teilhaben.

In der eher sterilen Europacity wirken die malerischen Flächen wie eine persönliche Note. Duktus und Geste in einer uniformen Planstadt. Nur abgetrennt durch den Flick-Container, der auch bald verschwinden wird. Fahrradfahren, Fußball und Basketball vor, in und auf Kunst. Malerei expandiert in den Alltag. Doch was bleibt von Katharina Grosses Installation, wenn sie im Januar 2021 wieder abgebaut wird? Die besprühten Folien werden vom Boden abgezogen, die multidimensionale Styropor-Skulptur wird recycelt, die nun bunten Rieckhallen verschwinden. Ein utopischer Körper, ein Gedankenkonstrukt, wird weiterleben.

Die gegenwärtige Momentaufnahme von Katharina Grosse trifft in dieser Zeit auf den Nerv. Wir befinden uns in einem Zustand, in dem ein Wandel stattfinden kann und muss. Wir können nach der Corona-Krise nicht weitermachen wie zuvor. It wasn’t us — aber wir sollten im Kollektiven dafür sorgen, dass es nicht so bleibt.

Ich laufe durch eine Wiese und steuere einer Gruppe von Sitzbänken entgegen. Nun bin ich außerhalb der Installation, oder mittendrin?

Berlin, am 14. Juni 2020


Katharina Grosse, It Wasn’t Us, 2020
Hamburger Bahnhof — Museum für Gegenwart Berlin
14.06.2020 — 10.01.2021

kuratiert von Udo Kittelmann und Gabriele Knapstein

Abbildung: It Wasn’t Us. Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2020 / Courtesy KÖNIG GALERIE, Berlin, London, Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien © Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: Jens Ziehe

Janine Muckermann is a visual artist and cultural theorist. She co-founded POKUS in early 2019. In her writings she mainly focuses on the connection between text/dance/movements and on performative processes, referring to intersectional questions of power, knowledge, accessibility, and feminist spatial practices.