Das Dispositiv der Vermittlung bei Jérôme Bel und Isadora Duncan

Foto: Isadora Duncan, © Arnold Genthe

In allen Live-Aufführungen wird zwischen den Performern auf der Bühne und dem Publikum vermittelt. Diese zwei Kommunikationsebenen müssen immer entstehen, weil sie die Einmaligkeit einer Aufführung garantieren. Das Besondere an Jérôme Bels Inszenierung “Isadora Duncan” ist, dass sie nicht Isadora Duncans Tänze als Objekt des Austausches versteht, sondern ihrer Interpretationen. Die Tänzerin Elisabeth Schwartz interpretiert so treu wie möglich mehrere Tänze von Isadora Duncan, und diese Interpretationen stellt sie wiederum dem Publikum als Interpretationsobjekt zur Verfügung. 

Da Jérôme Bel den Tanz als Medium der Interpretation und der stets beweglichen Übersetzung zeigt, scheint es uns gelegen, einen zweistimmigen Text darüber zu schreiben. 

Wir lernen Isadora Duncans Biografie über ihre Choreografien kennen. Die 1877 in San Francisco geborene Tänzerin war fasziniert von griechischer Ästhetik, die ihr zuallererst in Form von Malereien auf antiken Vasen begegnete. Sie war dabei aber keine seltene Connaisseuse. Griechische Mythologie und antike Architekturen erlebten zum Fin de Siècle in den Vereinigten Staaten einen neuen Aufschwung. Gebäude wurden im historistischen, neoklassizistischen Stil gebaut und die Moden, die zwar noch sehr Korsett-lastig waren, wurden durch Empire-Schnitten den Kleidern griechischer Göttinnen nachempfunden. Auch Isadora Duncan orientierte sich modisch an dem Stil klassischer Tuniken, mit leichten, wehenden Stoffen. Für die damalige Zeit galten diese Schnitte, die tiefe Einblicke auf den Körper gewährten, noch als sehr freizügig, gar skandalös. So waren es nicht nur die Tänze Isadora Duncans, die Leichtigkeit versprühten und gefühlsgeleitet waren. Durch ihre luftigen Kleider erlang sie die nötige Bewegungsfreiheit, um ihre Tänze fernab der damaligen Konventionen zu entwickeln, dabei antike Schönheitsideale zu zitieren und in ihre modernen Ausdruckstänze zu übersetzen. Grundlegend war dabei auch die Wahl der Musik. Walzer von Schubert, Préludes von Chopin und Studien von Skrjabin.

Durch die Befreiung des tanzenden, weiblichen Körpers wirken die von Elisabeth Schwartz interpretierten Bewegungen neu und modern. Auch mehr als 100 Jahre nach ihrer Entstehung. Wie sie es selber in einer Radiosendung beschreibt, geht es bei Isadora Duncan um eine Art Suspendierung, das heißt um eine Spannung zwischen starken Impulsen und der Schwerkraft. Ein Leitmotiv ihrer Tänze ist das Wogen, was öfters als Symbol der Anziehungskraft verwendet wird oder fast plakativ als Verkörperung der Wellen. Das Wogen und im weiteren Sinne das Tanzen ist ein Spiel mit der Schwerkraft. Das akademische Ballett im Gegenzug stellt die Tänzer*innen als leichte, luftige Körper dar, die fast fliegen. Dabei tendiert dieser Tanz zu einer Ablehnung der Schwerkraft.

Der hier genannte Bruch mit dem akademischen klassischen Tanz gleicht auf keinen Fall einem Verzicht auf Grazie und Genauigkeit. In Jérôme Bels Inszenierung wird fast jeder Tanz dreimal durchgeführt. Ein Mal mit oder ohne Musik, ein Mal ohne Musik aber mit Stichwörtern, die den Sinn oder den Impuls jeder einzelnen Bewegung erläutert, und ein letztes Mal mit Musik. Beim letzten Mal kennen die Zuschauer*innen die Absichten, die hinter den Gesten stecken. Und dabei merkt man, dass jede Bewegung jedes Mal ganz genau wieder gespielt wird. In der Haltung wird nichts dem Zufall überlassen. Die Positionen eines jeden Körperteils sind immer gleich. Insofern geht die Präzision trotz der Abschaffung der akademischen Strenge nicht verloren. Und es bedarf fast nicht der Beschreibung, dass die Konsequenz und die Beständigkeit viel bedeutender in einem Raum der Freiheit sind, als wenn das Denken und die Bewegung in festen Formen oder Codes eingeschränkt sind.

Indem sie ihre Arbeit vom akademischen Tanz distanziert, stellt Isadora Duncan das Verhältnis des Körpers mit grundsätzlichen Elementen in Frage. Wie wird das Meer von einem menschlichen Körper wahrgenommen? Wie kann diese Wahrnehmung in Bewegungen übersetzt werden? Was macht Musik und wie bewegt sie den Körper? 

Eben aus diesen grundlegenden, neu gestellten Fragen entsteht eine Ästhetik der Reduzierung. Damit ist eine Darstellung sowie eine Denkweise gemeint, wo jede Bewegung zum Symbol eines Gefühls oder einer Idee gemacht wird. Isadora Duncans Tänze sind Sätze: Sie bestehen aus Wörtern, deren Assoziation und bestimmte Reihenfolge einen Sinn ergeben und Gefühle auslösen. Bloß werden diese Wörter in Gesten übersetzt. Hinter jeder Bewegung steckt eine Idee, die in Wörter gefasst werden kann. Die Bilder, die aus diesem Verfahren entstehen, sind manchmal sehr plakativ. Die Mutter wiegt das imaginäre Kind hin und her. Sie streichelt es. Sie verabschiedet sich von ihm mit einer hoch gestreckten Hand. Die Kommunistin kämpft, indem sie die Faust nach vorne streckt. Allerdings sind diese Assoziationen so klar und vor allem so reduziert, dass sie nie überflüssig scheinen. 

Es scheint, dass Isadora Duncan die richtigen Bewegungen, Positionen und räumlichen Konstellationen gesucht hat, sowie ein*e Dichter*in die passenden und reduzierten Wörter sucht. Sowie auch die für Duncan zeitgenössischen Maler*innen des Kubismus, die die gezeichneten Formen reduziert haben, bis sie zur Darstellung ihrer Quintessenz gelangten. Bis zum Zeitpunkt, wo nur das Wesentliche übermittelt wird: Den von allen oberflächigen Spänen befreiten Kern. Ähnlich hat der Bildhauer Auguste Rodin mit seinen Fragmenten gearbeitet. Ein Fuß allein deutet schon eine bestimmte Haltung, einen Impuls oder eine Stabilität an. Ein Fuß reicht, um sich den ganzen Körper vorzustellen. 1990 hat Elisabeth Schwartz Isadora Duncans Tänze in Assoziation mit Skulpturen von Rodin inszeniert. In ihrer Suche nach der Reduzierung haben die beiden Künstler*innen eine Ästhetik geschaffen, in der die Schönheit aus einer Evokation besteht.

Jérôme Bels Inszenierung

Jérôme Bel inszeniert das Leben Isadora Duncans in Form einer Timeline, wobei ihre Tänze der Visualisierung ihres fortschreitenden Erfahrungsschatzes und der Entwicklung ihrer Bewegungen dienen, die stets einen Bezug zu ihren Erlebnissen und Emotionen darstellen und einander widerspiegeln. Der 1964 geborene Choreograf vertritt einen “konzeptuellen” Tanz. Ähnlich wie Duncan löst er sich von dem Korsett der klassischen Inszenierungen mit einem spektakulären Bühnenbild und versucht sich an einer konzeptuellen Theaterpraxis, die jedoch über eine schlichte Darstellung tänzerischer Bewegungen hinausgeht. So liegen seinen Choreografien semiologische und poststrukturalistische Theorien zugrunde wie die Roland Barthes‘, Guy Debords oder Michel Foucaults. 

Jérôme Bel nähert sich an Roland Barthes semiologischen Ansatz an, indem er Zeichen in Bewegung übersetzt und umgekehrt und diesen Übersetzungsprozess zu einem grundlegenden Thema macht. Ähnlich Bertolt Brecht’s Konzept der “Vierten Wand”, die durchbrochen werden muss und Foucaults Idee des Theaters als Dispositiv, geht auch Bel in seiner Theaterpraxis über den Bühnenraum hinaus, verlässt dieses oftmals architektonisch als auch räumlich festgesteckte Feld und bezieht das Publikum als grundlegende Instanz für die Aufführung in das Geschehen auf der Bühne ein. So werden die Zuschauer*innen zu Partizipierenden. Jérôme Bel versucht gleichermaßen der Idee Guy Debords nachzukommen, der durch die kapitalistische Spektakel-Gesellschaft die Handlungsfähigkeit der Individuen in Gefahr sieht. Ein bewusstes Schaffen von Situationen, um die passiv-ohnmächtigen Beobachter*innen wieder zu aktiven Teilnehmer*innen des Lebens zu machen, sieht Debord als Möglichkeit, um gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Dieser Ansatz könnte auch in der Tradition Jacques Rancières stehen, der in den Menschen im Publikum emanzipierte Zuschauer*innen sieht, die eigenständig denken und das erlangte Wissen vorantragen. Jérôme Bel möchte den Zuschauer*innen eine Gelegenheit bieten zu aktiv Handelnden zu werden.

Mit diesen theoretischen Bezügen im Hinterkopf können wir uns nun einem zentralen Thema Jérôme Bels und Isadora Duncans widmen, der in Ansätzen bereits Erwähnung fand. Gleich zu Beginn der Aufführung des konzeptuellen Stücks “Isadora Duncan” wird deutlich, welche Motivation die zwei Choreograf*innen verbindet: Vermittlung. 

Vermittlung als “Kunstvermittlung”, “Tanzvermittlung” und “Tanzpädagogik” im Sinne der Lehre und Vermittlung von Inhalten durch praktische Übungen, war für Isadora Duncan, die als Tanzlehrerin ihren Schüler*innen ihre Choreografien beibrachte, grundlegend. Ihre sogenannten “Isadorables” sollten jedoch nicht das Tanzen perfektionieren, wie es in Ballettschulen der Fall ist, wobei Perfektion der Ausführung als unverrückbar verstanden wird und sich die Körper den Regeln der Choreografien zu beugen haben. Isadora Duncan verstand Tanz als Ausdruck der innersten Emotionen, zur Verarbeitung der Gefühle und als Möglichkeit, Gesellschaft zu verändern. Als Mittel des gemeinsamen Lernens setzt die Mediatorin (Jérôme Bels Assistentin) auf Schwarmintelligenz zum gemeinsamen Einstudierens der Choreografie Isadora Duncans, vorgetanzt von Elisabeth Schwartz und schon kurz darauf sich selbst, der Gruppe, dem Schwarm überlassen.

Gleichermaßen wird die Arbeitsweise Jérôme Bels transparent gemacht: Es geht um die Vermittlung des Verfahrens. Der Kern der Choreografien wird greifbar. Das Publikum versteht, was hinter dem Tanz steckt, bis hin zum körperlichen Verständnis, wenn zwölf Menschen aus dem Publikum auf der Bühne stehen, um das Tanzen anhand der von Elisabeth Schwartz vermittelten Choreografien Isadora Duncans zu erlernen. Jérôme Bels Assistentin, die von Anfang an Duncans Biografie vorliest, sagt am Ende, dass die Vermittlung der Tänze, die für Isadora Duncan wichtiger als alles Andere war, an dem Abend wieder mit uns, dem Publikum, gelungen ist. 

Am Anfang war es fast zu befürchten, dass die Tänze nur eine Illustration der vorgelesenen Biografie werden: Es wird gesagt, dass Isadora Duncan ihre Inspiration teilweise in der griechischen Antike gefunden hat. Und so wird gezeigt, wie “Dionysos”, “Satyre” und andere griechische Motive von Isadora Duncan in Bewegungen übersetzt wurden.

Doch sehr schnell spielen die Tänze eine zentrale Rolle und der Text wiederum wird eine Begleitung und Erläuterung von ihnen. Insgesamt werden sechs Tänze interpretiert. Durch die drei Wiederholungen jedes Tanzes und die Vorlesung von Stichwörtern, die die Absichten jeder Impulse klarmachen, entsteht für alle Zuschauer*innen ein tiefes Verständnis Isadora Duncans Arbeit. So wie Swann in Prousts “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” Vinteuils Sonate immer tiefer begreift, wenn er sie mehrmals aufmerksam zuhört. Bei der dritten Aufführung eines Tanzes kann man, wie Swann, sich auf sekundäre Details fokussieren und die Schönheit und Komplexität des Stücks besser verstehen. Und das, was man beim ersten Mal übersehen hatte, scheint am Ende noch wesentlicher zu sein als das, was man ursprünglich für das Schönste überhaupt gehalten hatte. Es wird sogar im Publikum gelacht, wenn die “Dionysos” Bewegung im Stück “The Musical Moment” (nach einem gleichnamigen Stück von Franz Schubert) auftaucht. Es wird gelacht, weil die Referenz für alle verständlich gemacht wurde.

Durch dieses Verfahren, wo jedes Stück mehrmals mit Texten oder Musik wiederholt wird, wird also ein bestimmtes Verständnis im Publikum erreicht. Das heißt auch, dass Isadora Duncans sowie Jérôme Bels und Elisabeth Schwartzs Arbeitsverfahren enthüllt und zugänglich gemacht werden. Am Ende geht es nicht darum, dass Isadora Duncans Tänze perfekt und im originalen Kontext durchgeführt werden (die Musik wird von einem Computer und nicht mal mit einem echten Klavier gespielt), sondern dass ihre Arbeit heute und in einer aktuellen Weise vermittelt wird. So dass alle Zuschauer*innen sich angesprochen fühlen.Jérôme Bel thematisiert hiermit auch die Frage der Interpretation: Elisabeth Schwartz interpretiert die Tänze Isadora Duncans mit ihrem eigenen Verständnis und ihrer eigenen Geschichte. Tanz wird als subjektives Interpretations-Objekt par excellence dargestellt und vermittelt. Von daher ist die Enthüllung der Arbeitsprozesse wesentlich: Sie erlaubt uns, jeden Tanz besser zu schätzen. 

Wer eine Perle zum ersten Mal sieht, ist fasziniert von ihrer Schönheit. Und wer weiß, wie die Perle von einer Muschel hergestellt wurde, bewundert ihre Pracht noch mehr.

Fotos: Jérôme Bel, „Isadora Duncan“, © Camille Blake
Titelbild: Isadora Duncan, © Arnold Genthe

Jérôme Bel „Isadora Duncan“
Tanz im August 2019
Deutsches Theater Berlin
16. August und 18. August

Weiterführende Literatur und Quellen:
1. France Culture, Une vie, une oeuvre, “Isadora Duncan ou l’art de danser sa vie (1877-1927), Sendung vom 17/12/2016, Irène Omélianenko 

2. “Jaillissements. Isadora Duncan et Auguste Rodin”, 1990 
3. Interview Jérôme Bel + Marianne Alphant

4. Theater als Kritik

Julia Ben Abdallah is an art historian and writes about exhibitions and artistic works in Berlin that she finds particularly inspiring, without restricting herself to a particular genre or discipline. Janine Muckermann is a visual artist and cultural theorist. In her writings she mainly focuses on the connection between text/dance/movements and on performative processes, referring to intersectional questions of power, knowledge, accessibility, and feminist spatial practices.