لِبيروت (An Beirut)

Oft wache ich mit einem Ohrwurm auf, den ich mir nicht wirklich erklären kann. Ein Lied spielt ununterbrochen in meinem Kopf und da jeder Kampf dagegen vergeblich wäre, muss ich mich darauf einlassen, in dem ich das Lied ganz laut abspiele, vorzugsweise mehrmals, und dabei ganz laut mitsinge. Auch an diesem Sonntagmorgen, lustiger Zufall oder heimliches Orakel, schallt Fairuz’s Stimme in meinem Kopf. لِبيروت (An Beirut). An diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, was ich am Nachmittag unternehmen werde. Ich mache meine Lautsprecherbox an und singe mit. Wie üblich wirkt die Katharsis: Das Lied lässt ein bisschen nach, so dass meine anderen Gedanke wieder mehr Raum bekommen. Fairuz’ Stimme ist nun eine sanfte und angenehme Präsenz; sie wird mich den ganzen Tag begleiten.

[Hier geht es zum Lied]

Am Spätnachmittag entscheide ich spontan, die daadgalerie in der Oranienstraße zu besuchen. Die aktuelle Ausstellung ist eine Solo-Präsentation der Künstlerin Paola Yacoub und heißt “BEY002”. In der Mitte des Ausstellungsraums thront ihr zentrales Werk: Ein sehr großer, mächtiger Teppich (4,82 x 3,54 m). Ich betrachte ihn eine Weile und mache dann einen Rundgang, um die anderen Exponate in Augenschein zu nehmen. Meine Intuition sagt mir, dass ich die Bedeutung und Wichtigkeit des Teppichs erst wirklich verstehen werde, wenn ich den Rest der Schau gesehen haben werde.

An einer Wand gegenüber des Teppichs hängen zwei Reihen von Zeitungen, die Paola Yacoub ausgewählt hat. Es sind Ausgaben von L’Orient-Le Jour, eine wöchentliche libanesische Zeitschrift in französischer Sprache. Der Fokus liegt vor allem auf den satirischen Comics „The Art of Boo“, dessen Autor, Bernard Hage, so wie Paola Yacoub, in Berlin lebt. Es handelt sich um Ausgaben der Zeitung, die kurz vor und nach dem 4. August 2020 – dem Tag der Explosion im Hafen von Beirut – erschienen sind. Die Zeichnungen karikieren die politische Situation im Libanon. Die Comics wurden nicht von Paola Yacoub ausgeschnitten oder anderweitig isoliert: mit jeder Zeitungsseite sind diverse andere Inhalte mit ausgestellt. Sie bilden kleine zufällige Ausschnitte der Aktualität und des libanesischen Alltags zum Überfliegen: ein Bericht über den Erfolg einer jungen Sängerin, ein Kuchenrezept… alle Betrachter:innen können sich von diesen Nebenartikeln das wählen, was sie anspricht. Ein von diesen Artikeln, ein Text vom Journalist Gilles Khoury, weckt mein Interesse: Ich lese ihn mit mehr Aufmerksamkeit und finde ihn schön. Es ist eine – fiktive? – narrative Erzählung, wo die komplexe Beziehung zwischen einem Mann und dem Libanon, seiner Heimat, geschildert wird. Komplex insofern, dass die politische Situation in seinem Land ihn verzweifelt aber dass er sich für das Exil nicht entscheiden kann, selbst wenn er gedanklich kurz davor steht, in See zu stechen. Dieser Artikel, sowie die anderen, die ich nicht so gründlich gelesen habe, ist sozusagen zufällig mit ausgestellt, weil er auf dieselbe Seite wie “The Art of Boo” gedruckt wurde. Mir gefällt gerade seine ambivalente und unklare Position: Im Grunde genommen gehört er nicht wirklich zur Ausstellung, dennoch steht er zur Verfügung und lässt sich mit aufnehmen. Die Zeichnungen von Bernard Hage und die Erzählung von Gilles Khoury berühren mich. Sie setzten sich in meinem Kopf, wo sie einen Platz neben Fairuz finden, und begleiten mich durch den Rest der Ausstellung. 

Als nächstes widme ich mich einem Bereich mit Paola Yacoubs Zeichnungen, die genauer gesagt archäologische Protokolle sind. Als Beirut nach dem Bürgerkrieg (1975 – 1990) rekonstruiert werden sollte, wurden Ausgrabungen durchgeführt, an denen auch Paola Yacoub teilgenommen hat1. Während des Kriegs wurde die Innenstadt von Bombenangriffen massiv zerstört. Die verbliebenen Gebäude sollten abgerissen werden, um den geplanten Wiederaufbau vorzubereiten. In der ganzen Stadt wurden Bereiche definiert, in denen unterschiedliche Teams von Archäologen:innen arbeiten sollten. Die Künstlerin Paola Yacoub hatte ihre Heimatstadt Beirut schon seit ein paar Jahren verlassen, als sie 1993 zurückkam, um auf dem Gelände von BEY002 an der Notausgrabung zu arbeiten. Wie von der Kuratorin Corinne Diserens in ihrem Text beschrieben, wurden dort Spuren von sechs unterschiedlichen Epochen gefunden, die sich im Boden überlagerten: „die osmanische, die byzantinische, die römisch-kaiserliche und -republikanische, die hellenistische und die persische. Yacoubs Auftrag bestand darin, die verschiedenen freigelegten Schichten nacheinander zeichnerisch zu erfassen.“2 Die Zuschauer:innen befinden sich also vor zahlreichen archäologischen Protokollen: wissenschaftliche Aufzeichnungen der fortlaufenden Ausgrabungen im Stadtteil „BEY002“. Schematische Darstellungen, Farbkodierungen und schriftliche Hinweise mit zahlreichen, für die Laien rätselhaften Abkürzungen.

Auf den Teppich, der nicht weit entfernt liegt, wurde eine von diesen archäologischen Zeichnungen aus dem Jahr 1995 übertragen. Das Werk wurde 2012 von der renommierten Manufacture des Gobelins in Paris angefertigt. Circa zwanzig Jahre nach den ersten Notausgrabungen in BEY002 entstand ein Dialog zwischen Paola Yacoub und der Pariser Manufacture. Die Anfertigung des Teppichs beanspruchte ungefähr viereinhalb Jahre. Das Werk hat eine warme, zugleich prachtvolle und beruhigende Ausstrahlung. In vielen Kulturen, gerade in arabischen Ländern, ist der Teppich ein wertvoller Gegenstand mit langer Tradition, was mit einem komplexen Handwerk verbunden ist. Die Pariser Manufacture des Gobelins ist seit dem 15. Jahrhundert für ihr Fachwissen weltweit berühmt. Dabei wurden im Fachbereich der Weberei zahlreiche Techniken durch Austausche zwischen dem osmanischen Reich und Europa nach Frankreich gebracht. Teppiche können an der Wand hängen oder auf dem Boden liegen. Sie sind Schmuckstücke für das Zuhause, die die Schritte, die Tränen und Freuden, Schreie und Flüstern ganzer Familien heimlich in sich aufnehmen. Ein wertvoller Teppich wird oft von Generation zu Generation vererbt. Es kann auch ein Ort des Gebets oder der Meditation sein und somit einen andächtigen Wert für sich haben. Nun nutzt Paola Yacoub diesen fast sakralen Gegenstand, der als Symbol für Zuhause gelten kann, als Oberfläche, um eine archäologische Zeichnung zu übertragen. Diese Überführung stellt erst einmal eine Analogie zwischen der archäologischen Praxis und dem Teppich als Gewebe her: Beide Praxen bestehen darin, dass sie überlagerte Schichten – jeweils von Ruinen und von Faden – ans Licht bringen. Geheimnisvolle Netzwerke aus Stein oder aus Wolle spinnen sich unsichtbar unter unseren Füßen und verankern uns. Sie verbinden uns mit einer älteren Geschichte, von der wir nicht aktiv viel mitbekommen, dennoch stark beeinflusst sind. In dieser Analogie verkörpern der Teppich und die archäologische Praxis unseren Bezug zum Boden und zu unserer Geschichte. Sie dienen als stille Vermittlung zwischen mehreren Generationen.

Nichtsdestotrotz steht der Teppich auch in einem widersprüchlichen Verhältnis zu der Darstellung, die er trägt. Denn er ist ein Symbol des Zuhauses, während die Zeichnung eine Darstellung der zahlreichen Wohnungen ist, die es nicht mehr gibt. Die Zeichnung weist brutal auf den Grund, weshalb dieser Teppich seine Rolle als Teppich nicht erfüllen kann. Selbst im Ausstellungsraum, wo er prachtvoll auf dem Boden liegt, darf er nicht betreten werden. Seine ursprüngliche Funktion und somit seine Essenz werden ihm entnommen. Im Gelände von BEY002 gab es keine Wohnungen mehr. Die archäologischen Ausgrabungen wurden  vom Bürgerkrieg  bedingt: Sie mussten vor dem Wiederaufbau abgeschlossen werden, der nach dem Krieg notwendig war. Aber sie hätten auch nicht ohne diese Zerstörungen stattfinden können. Will man die Geschichte einer Stadt archäologisch erforschen, dürfen keine Gebäude auf den jeweiligen Forschungsgründen stehen. Die Zerstörung ist sozusagen eine Voraussetzung der Archäologie, wenn es darum geht, die Vergangenheit eines bewohnten Ortes zu erforschen. 

Abriss und Neubau gehören auch zur zeitgenössischen Geschichte der deutschen Hauptstadt und prägen ihre Identität. Im Vergleich zu anderen europäischen Städten ist die alte Geschichte Berlins dennoch relativ wenig und sehr lückenhaft bekannt. Größere Ausgrabungen und archäologische Forschungen wurden erst in den letzten Jahren unternommen3. Berlin, wie Beirut, ist eine Stadt auf der Suche nach ihrer Geschichte und ein Stück weit auf der Suche nach ihrer Identität. Die Besetzungen von alten Zeiten sind nicht gut bekannt und die Geschichte des letzten Jahrhunderts ist besonders schmerzhaft. Berlin ist eine Stadt, deren Gegenwart auf eine fragile Vergangenheit beruht. 

Zusammen bilden alle Exponate ein sonderliches Porträt Beiruts. Wie auf einem Negativfilm wird die Identität der Stadt, ihre Komplexität, anhand von dem dargestellt, was es nicht mehr gibt. Das Entscheidende in diesem Kennenlernen von Beirut ist das, was durch den Krieg, durch die Explosion im Hafen und während früherer Epochen zerstört wurde, was verschwunden ist oder begraben wurde. Paola Yacoub erklärt, dass sie ihre Stadt neu entdeckt hat. Denn durch die archäologischen Ausgrabungen ließ sie sich anders wahrnehmen. „Ich hatte das seltene Privileg, Ausgrabungen in der Stadt meiner Kindheit durchführen zu können und nicht, so wie oft, in einem fernen Land. Und ich konnte Beirut von unten sehen, aus den Tiefen seiner Geschichte. Das war ein Schock. Dabei entdeckte ich auch, dass diese Geschichte unvollständig war, dass bestimmte städtebauliche Vermutungen falsch waren. Mein Wissen über die Stadt veränderte sich grundlegend. Doch seitdem bin ich von Böden besessen.“4 Die Comics „The Art of Boo“, die Protokoll-Zeichnungen und natürlich auch der Teppich weisen alle auf Narben; auf Ereignisse, die Wunden mehr als Abdrücke in Beiruts Körper hinterlassen haben. Auch Fairuzs Lied spricht von einem verletzten Beirut, von Asche und Blut, von Finsternis und Verzweiflung5. Dennoch ist es auch, wie Paola Yacoubs Werke und wie Gilles Khourys Text, eine Liebeserklärung, die Nostalgie und tiefe Verbundenheit zugleich ausdrückt. 

Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese Ausstellung in Berlin stattfindet. Im Grunde genommen wird Berlin als Gastgeberstadt nie thematisiert, noch wird eine Parallele zwischen Berlin und Beirut deutlich gemacht. Nichtsdestotrotz scheint es mir, dass Berlin heimlich mit porträtiert wird. Vielleicht durch Ähnlichkeiten, die ich nicht ausblenden kann. Berlin, die wie Beirut von Bombenangriffen noch gebrandmarkt ist. Berlin, deren Mauer knapp ein Jahr vor Beiruts grüne Linie fiel. Berlin, deren Kriegswunden erst noch frisch geheilt sind und deren Geschichte unlängst wissenschaftlich erforscht wurde. 

Ich sehe zwei Städte auf der Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit; ich sehe einen mühsamen Versuch der Selbstfindung und eine gegenwärtige Identität, die von Traumata und Unsicherheiten geprägt ist. So erlebe ich Berlin und so wird Beirut von Paola Yacoub porträtiert. Ich möchte keine lineare Analogie zwischen zwei absolut unvergleichbaren Kriegen und Traumatas ziehen. Berlin ist an einem anderen Stadium ihrer Rekonstruktion und ich weiß, wie privilegiert ihre heutige Bevölkerung ist. Dennoch wirkt die Ausstellung auf mich so, als würde sie eine heimliche, solidarische Bindung zwischen Beirut und Berlin hervorrufen. Als hätte Paola Yacoub eine zweite, unsichtbare Tapete angefertigt, indem sie die Identitäten ihrer zwei Städten miteinander gewebt hätte. Vielleicht auch in einer Geste der Hoffnung. 

من قلبي سلامٌ لبيروت
و قُبلٌ للبحر و البيوت

Von meinem Herzen einen Gruß an Beirut
Einen Kuss an das Meer und die Häuser

The Art of Boo, „L‘Orient-Le Jour“, Zeitungen mit Illustrationen, 2019-2021 / Paola Yacoub, BEY002, Wollteppich, 2013-2019, mit Baugerüst / Paola Yacoub, Bridge, Fotoabzug, 1996 / Paola Yacoub, Minutes, Zeichnungen, 1995 / Paola Yacoub, Elagabalus, Vitrine, 2021 (Foto: Thomas Bruns)
Bild: Mission archéologique française du Centre-ville de Beyrouth (BEY002). Institut français du Proche-Orient
The Art of Boo, „L‘Orient-Le Jour“, Zeitungen mit Illustrationen (Detail), 2019-2021 (Foto: Thomas Bruns)
Paola Yacoub, "BEY002": 8. Juli - 19. September 2021 in der daadgalerie
daadgalerie
Oranienstraße 161
10969 Berlin
https://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/

1 Detaillierte Informationen zu den Ausgrabungen befinden sich im Ausstellungsheft. Eine digitale Version davon steht hier zur Verfügung.
2 Corinne Diserens, „Die Erinnerung braucht den Boden“, im Ausstellungsheft Paola Yacoub. BEY002, Daadgalerie, Berlin, 2021, Seite 40.
3 Mehr Informationen zu der Ausgrabung in Berlin Mitte, die von 2008 bis 2015 unter der Leitung von Michael Malliaris durchgeführt wurden: “Berlin fast vergessene Mitte”, Hakan Baykal, Spektrum, 25.05.2021: https://www.spektrum.de/news/ausgrabungen-berlins-fast-vergessene-mitte/1867114
Mehr Informationen zum Forschungsareal Biesdorf (1999 – 2014) auf der Seite des Neuen Museums: https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/berlins-groesste-grabung/
4 “Gespräch mit Paola Yacoub, März 2021”, Corinne Diserens , im Ausstellungsheft Paola Yacoub. BEY002, Daadgalerie, Berlin, 2021, Seite 55.
5 Auch Paola Yacoub schreibt, dass „die Übertragung dieses Dokuments auf einen Teppich […] wie eine Geste der Verzweiflung [erscheint].“ Cf. Paola Yacoub, “BEY 002, This is not a fiction, 2021”, im Ausstellungsheft Paola Yacoub. BEY002, Daadgalerie, Berlin, 2021, Seite 7.