Zu Beginn hängt das Tuch als monochrome Fläche dort, wo normalerweise ein Bühnenvorhang Bühne und Zuschauer*innenraum teilt. Tänzer*innen laufen auf und stellen sich in einer Reihe mit dem Rücken eng an das hermetische Textil. Die vollkommen glatte, fahle Fläche erinnert erst an eine Wand aus geschliffenem Beton, doch die Performer*innen beginnen, mit ausgebreiteten, suchenden Armen blind durch den Stoff hinter ihnen zu rudern. Gemeinsam versetzen sie es in Schwingungen, bebend, Wellen schlagend, rüttelnd. Durch das Licht bilden sich dabei auf dem Stoff starke Kontraste, expressionistische Höhen und Tiefen im sonst schlichten Beige. Sie erzeugen bewegte, kurzlebige Faltenwürfe, die der Fläche fluide Konturen geben. Es wirkt, als würden die Tänzer*innen erkaltetes Zement wieder verflüssigen, leicht und dünn machen. Als würden sie, mit zunehmend exzentrischen Gesten, ein bereits trittfestes Plateau wieder aufmischen. Schließlich aber verschwinden die Oberkörper von Tänzer*innen, ebenfalls in erdige Töne gehüllt, gut getarnt in der matschigen Masse, immer häufiger vollständig hinter dem wogenden Stoff. Die Dynamik des Materials scheint von den Körpern auszugehen, sie aber dennoch zu verschlingen. So beginnt ein Spiel unbestimmter Spannungen, bei dem die Richtungen der Kraft stets unergründlich bleiben.
Aus den sanften Wogen werden tiefe Furchen, Berge, Krater, Schluchten. Untermalt von bassigen Rhythmen erhalten die Bewegungen eine Dramatik, eine gehetzte Geschwindigkeit. Alles muss ganz schnell gehen. Das Tuch fällt von der Decke und ist jetzt den Performer*innen überlassen. Die Tänzer*innen werden zu Organisator*innen eines stofflichen Spektakels, verkörpern die Bewegungen des Segels und bringen ihren Körper ein in das große Laken, spannen es an Haken und bauen neue Welten. Von an der Natur angelehnten Phänomenen gelangen sie zu industriellen Konstrukten, nutzen Schnüre um das textile Ungetüm zu bändigen. Keine Zeit. Weiter geht es mit dem Einriss der vierten Wand, das Tuch ragt nun auch in den Zuschauer*innenraum, Techno durchfließt den zuschauenden Körper und das stroboskopartige Lichterspiel lähmt den Blick, macht ihn stumpf und flach. Zu sehen ist nur noch rot, blau, lila, weiß, rot, blau, lila, weiß.
Obwohl die Performer*innen den Stoff eine Stunde lang quer über die Höhe und Breite der Bühne spannen und zerren, ist dieses Ringen um immer neue Konstruktionen alles Andere als der naheliegende, kindliche Tauzieh-Antagonismus. Ebenso wenig beschwört es einträchtige Zeltbau-Romantik. Stattdessen liegt die Überwältigung dieser Performance darin, dass die diffusen, sich vielfach überlagernden Spannungen nicht mehr der einzelnen Tänzer*innen zugeordnet werden können. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie die vielen Akteur*innen in dieses Spiel verwickelt sind, welchen Anteil die Einzelnen an diesen vergänglichen, kühnen Entwürfen haben.
Diese Spannung ist produktiv, gleichzeitig wird das Tuch in den Händen der Tänzer*innen nie wieder die ebenmäßige Oberfläche, die es senkrecht aufgespannt noch war. Nur einmal breiten die Darsteller*innen es flach über den Boden aus. Sie wagen dann auch eine zaghafte Begehung der Ebene. Der Techno ist nun erstmals gedämpft. Es erklingt ein geduldiges, beinahe medizinisches Piepen.
Für einen Moment scheint sich das Plateau zu stabilisieren. Die bebenden Körper lassen sich auf den Stoff sinken. Ein Moment der Ruhe nach dem Sturm, die Tänzer*innen liegen auf dem ausgerollten Textil wie auf einem Teppich. Doch schnell wird klar, dass es eigentlich der darunterliegende Bühnenboden ist, der die Darsteller*innen trägt. Sie stehen auf und rollen den Stoff, wortwörtlich für Höheres bestimmt, zu einer neuen Figur. Als Gemeinschaft erheben sie das Tuch zu einer Art Gallionsfigur, einem Überwesen, einem Drachen, den auch sie nun nicht mehr zu bändigen vermögen. Und so hört es auf. Die Zeit ist um, eine Stunde ist vergangen, das wilde Treiben, das choreographierte Chaos kulminiert in einem finalen Gebilde aus Segel und Tau.
Anderswo wird der unübersichtliche, kollektive Konflikt oft als archaischer Zweikampf vereinfacht dargestellt. Auch abseits der Kunst werden Auseinandersetzungen meist als direkte Konfrontationen mit klar verteilten Rollen inszeniert. Es heißt manchmal, das sei ein Versuch, eine gegenwärtige gesellschaftliche Komplexität zu verringern, die sich nicht darstellen ließe. Sieht man Plateau Effect, gilt diese Erklärung nicht mehr. Hier wird das kollektive Ringen um einen gemeinsamen Entwurf unmittelbar. Das Tanzstück zeigt die kritische Neuverhandlung von Gemeinschaftsformen. Das Publikum erlebt die unheimlich bekannte, aber selten theatral reflektierte kollektive Abstimmung in Ausnahmesituationen, wenn sich förmlich jeder Boden, jede Gewissheit, jedes Paradigma verflüssigt hat und neue Entwürfe notwendig geworden sind.
Alle Bilder: »Plateau Effect« von Jefta van Dinther, Foto: Jubal Battisti
Plateau Effect Samstag, 27.12.2019 19:30 Uhr Komische Oper Berlin
Regie: Jefta van Dinther Musik: David Kiers Szenographie: SIMKA Licht: Minna Tiikkainen
Zu Beginn hängt das Tuch als monochrome Fläche dort, wo normalerweise ein Bühnenvorhang Bühne und Zuschauer*innenraum teilt. Tänzer*innen laufen auf und stellen sich in einer Reihe mit dem Rücken eng an das hermetische Textil. Die vollkommen glatte, fahle Fläche erinnert erst an eine Wand aus geschliffenem Beton, doch die Performer*innen beginnen, mit ausgebreiteten, suchenden Armen blind durch den Stoff hinter ihnen zu rudern. Gemeinsam versetzen sie es in Schwingungen, bebend, Wellen schlagend, rüttelnd. Durch das Licht bilden sich dabei auf dem Stoff starke Kontraste, expressionistische Höhen und Tiefen im sonst schlichten Beige. Sie erzeugen bewegte, kurzlebige Faltenwürfe, die der Fläche fluide Konturen geben. Es wirkt, als würden die Tänzer*innen erkaltetes Zement wieder verflüssigen, leicht und dünn machen. Als würden sie, mit zunehmend exzentrischen Gesten, ein bereits trittfestes Plateau wieder aufmischen. Schließlich aber verschwinden die Oberkörper von Tänzer*innen, ebenfalls in erdige Töne gehüllt, gut getarnt in der matschigen Masse, immer häufiger vollständig hinter dem wogenden Stoff. Die Dynamik des Materials scheint von den Körpern auszugehen, sie aber dennoch zu verschlingen. So beginnt ein Spiel unbestimmter Spannungen, bei dem die Richtungen der Kraft stets unergründlich bleiben.
Aus den sanften Wogen werden tiefe Furchen, Berge, Krater, Schluchten. Untermalt von bassigen Rhythmen erhalten die Bewegungen eine Dramatik, eine gehetzte Geschwindigkeit. Alles muss ganz schnell gehen. Das Tuch fällt von der Decke und ist jetzt den Performer*innen überlassen. Die Tänzer*innen werden zu Organisator*innen eines stofflichen Spektakels, verkörpern die Bewegungen des Segels und bringen ihren Körper ein in das große Laken, spannen es an Haken und bauen neue Welten. Von an der Natur angelehnten Phänomenen gelangen sie zu industriellen Konstrukten, nutzen Schnüre um das textile Ungetüm zu bändigen. Keine Zeit. Weiter geht es mit dem Einriss der vierten Wand, das Tuch ragt nun auch in den Zuschauer*innenraum, Techno durchfließt den zuschauenden Körper und das stroboskopartige Lichterspiel lähmt den Blick, macht ihn stumpf und flach. Zu sehen ist nur noch rot, blau, lila, weiß, rot, blau, lila, weiß.
Obwohl die Performer*innen den Stoff eine Stunde lang quer über die Höhe und Breite der Bühne spannen und zerren, ist dieses Ringen um immer neue Konstruktionen alles Andere als der naheliegende, kindliche Tauzieh-Antagonismus. Ebenso wenig beschwört es einträchtige Zeltbau-Romantik. Stattdessen liegt die Überwältigung dieser Performance darin, dass die diffusen, sich vielfach überlagernden Spannungen nicht mehr der einzelnen Tänzer*innen zugeordnet werden können. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie die vielen Akteur*innen in dieses Spiel verwickelt sind, welchen Anteil die Einzelnen an diesen vergänglichen, kühnen Entwürfen haben.
Diese Spannung ist produktiv, gleichzeitig wird das Tuch in den Händen der Tänzer*innen nie wieder die ebenmäßige Oberfläche, die es senkrecht aufgespannt noch war. Nur einmal breiten die Darsteller*innen es flach über den Boden aus. Sie wagen dann auch eine zaghafte Begehung der Ebene. Der Techno ist nun erstmals gedämpft. Es erklingt ein geduldiges, beinahe medizinisches Piepen.
Für einen Moment scheint sich das Plateau zu stabilisieren. Die bebenden Körper lassen sich auf den Stoff sinken. Ein Moment der Ruhe nach dem Sturm, die Tänzer*innen liegen auf dem ausgerollten Textil wie auf einem Teppich. Doch schnell wird klar, dass es eigentlich der darunterliegende Bühnenboden ist, der die Darsteller*innen trägt. Sie stehen auf und rollen den Stoff, wortwörtlich für Höheres bestimmt, zu einer neuen Figur. Als Gemeinschaft erheben sie das Tuch zu einer Art Gallionsfigur, einem Überwesen, einem Drachen, den auch sie nun nicht mehr zu bändigen vermögen. Und so hört es auf. Die Zeit ist um, eine Stunde ist vergangen, das wilde Treiben, das choreographierte Chaos kulminiert in einem finalen Gebilde aus Segel und Tau.
Anderswo wird der unübersichtliche, kollektive Konflikt oft als archaischer Zweikampf vereinfacht dargestellt. Auch abseits der Kunst werden Auseinandersetzungen meist als direkte Konfrontationen mit klar verteilten Rollen inszeniert. Es heißt manchmal, das sei ein Versuch, eine gegenwärtige gesellschaftliche Komplexität zu verringern, die sich nicht darstellen ließe. Sieht man Plateau Effect, gilt diese Erklärung nicht mehr. Hier wird das kollektive Ringen um einen gemeinsamen Entwurf unmittelbar. Das Tanzstück zeigt die kritische Neuverhandlung von Gemeinschaftsformen. Das Publikum erlebt die unheimlich bekannte, aber selten theatral reflektierte kollektive Abstimmung in Ausnahmesituationen, wenn sich förmlich jeder Boden, jede Gewissheit, jedes Paradigma verflüssigt hat und neue Entwürfe notwendig geworden sind.
Alle Bilder: »Plateau Effect« von Jefta van Dinther, Foto: Jubal Battisti
Plateau Effect
Samstag, 27.12.2019
19:30 Uhr
Komische Oper Berlin
Regie: Jefta van Dinther
Musik: David Kiers
Szenographie: SIMKA
Licht: Minna Tiikkainen