Versuch, die Unsichtbarkeit gerecht zu verteilen

Seit einem Jahr fotografiere ich nur noch Häuser. Ich habe kein gutes Gefühl mehr dabei, Menschen zu fotografieren. Zumindest bei Menschen, die ich nicht kenne.

Wissen und Licht scheinen eng zusammenzugehören. Etwas zu beleuchten meint, ihm auf den Grund zu gehen, zu verstehen. Die archaischen Sedimente in den dunklen Spalten der Vergangenheit mit grellem Licht zu lockern, die schrumpeligen Stücke einer ideologischen Kruste in grellem Licht zu sezieren, in der warmen Sonne der Vernunft zu trocken und gut beleuchtet in der Mitte des Raumes neu zu drapieren. Wenn fotografieren bedeutet, den Widerschein der Realität – als längere oder kürzere Wellen des elektromagnetischen Spektrums – auf einem bestimmten Material zu bannen, dann ist die Fotografie vielleicht eine Verwandte Schwester der Unbestechlichkeit.

Ich bin ein weißer, heterosexueller Mann. Unsichtbarkeit ist ein Privileg, Unsichtbarkeit ist eines meiner vielen Privilegien. Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist gestaltet für weiße, heterosexuelle Männer. Meine Anwesenheit in einem Restaurant, in der Straßenbahn, beim Einkaufen oder Bowling ist keine Ausnahme, sie ist die Regel. Ich bin kein markierter Teil, ich bin nicht zu sehen. Die Geschichte des Mannes ist die Geschichte der Welt, so funktionierten Romane und Filme. Die Geschichte einer Frau ist die Geschichte dieser Frau. Ich kann es auch so probieren: Unsichtbarkeit bedeutet, mitgedacht zu werden, repräsentiert zu sein und repräsentieren zu können.

Es gibt einen Blick, der darauf aus ist, zu repräsentieren. Vielleicht ist es der Blick der Unsichtbarkeit. Vielleicht ist es der Blick aus der Dunkelheit heraus, aus dem gemütlichen Ecke selbstverständlicher Nichtbeachtung. Ein Paradox, oder nicht? Ein Privileg soll sie sein, diese Unsichtbarkeit? Ein Privileg, nicht beachtet zu werden? Nicht aufzufallen? Ich erinnere mich an ein Interview in der BRAVO von ungefähr 2001. Farin Urlaub gibt darin den Tipp, sich so anzuziehen wie Tapeten. Damit würde er nicht auffallen. Das sei sein Hauptproblem als Punker in der Schule gewesen, alle hätten ihn immer angestarrt. Bis er auf die Idee kam, mit dem Hintergrund, mit den Wänden zu verschmelzen, in den Räumen, in denen er sich aufhielt. Nicht beachtet zu werden bedeutet für ihn auch die Abwesenheit blauer Augen und Platzwunden. Wann wird Unsichtbarkeit zum Stigma, wann führt sie zur Ausgeschlossenheit? 

René Pollesch sagt, es müsse darum gehen, die Unsichtbarkeit besser zu verteilen. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wären eben nie symmetrisch, die Unsichtbarkeit immer privilegiert. Anders als gemeinhin gedacht, solle eine visuelle Politik nicht darauf abzielen, das bislang Unterrepräsentierte ins Licht zu rücken, sondern die Möglichkeit des Verschwindens, den Gewinn der Dunkelheit zugänglich zu machen. Licht und Repräsentation sind Geschwister. Ins Dunkle zu verschwinden kann eben auch bedeuten, sich nicht repräsentieren zu lassen. Liegt hier ein Denkfehler? Oder anders: wer ist in der Lage, darin einen Vorteil zu sehen?

So viele Formen der Ausgrenzung, so viele Gründe für Angst, so viele Möglichkeiten der Differenz. Doch: Farin und ich sind Männer. Ich schreibe als Mann, die Blicke, denen er in der Schule ausgesetzt ist, gleichen nicht solchen, denen er als Frau* ausgesetzt wäre. Er ist es schließlich selbst, der sich zum Objekt macht, auf dem Weg zur Tapete. Männer blicken anders auf Männer, blicken anders auf Frauen: Der Blick des (weißen, heterosexuellen) Mannes objektifiziert den weiblichen Körper, macht ihn zum Container männlichen Begehrens. 1975 beschreibt Laura Mulvey das Konzept des male gaze zum ersten Mal in ihrer psychoanalytischen Analyse des Films in Visual Pleasures and Narrative Cinema. Nun: wer also ist überhaupt in der Lage, Unsichtbarkeit als Fortschritt zu denken, ohne sich hinters Licht geführt zu fühlen?

In einer Bukowski-Erzählung geht es um ein Haus am Rande der Stadt, das die Kinder einer reichen Familie nicht besuchen sollen. (In allen Erzählungen von Bukowski geht es um ein Gebäude am Rande der Stadt, das die Kinder einer reichen Familie nicht besuchen sollen. In allen Erzählungen von Bukowski geht es um ihn, in diesem Gebäude) Sie sollen nicht sehen, wie verwahrlost das Leben dort ist, dass dort schon tagsüber gesoffen und gepöbelt wird, dass der Mann, der dort lebt, seine Frau schlägt. Natürlich lungern die Kinder gerade deshalb dort herum, weil es ihnen verboten ist. (natürlich, sagt Bukowski) Und natürlich finden sie es spannend, als nach ihnen mit einer Bierdose geworfen wird, als sie dem Haus zu nahe kommen. (natürlich, sagt Bukowski) Ein paar Tage später brennt das Haus ab, vielleicht stirbt der Typ, vielleicht auch nicht, vor allem aber beschuldigen die Kinder in der Erzählung ihre Eltern, das Haus angezündet zu haben. Aus der Neugier wird Sympathie, wird Sehnsucht eines eigenen Lebens in solcher Freiheit, fernab der unterdrückerischen, engen, gemeinen Verhältnisse im Haus der reichen Eltern, am anderen Ende der Stadt. 

Ein weiterer Fall von Unsichtbarkeit: wer ist die Frau, die nun auch kein Haus mehr hat, aber weiter blaue Flecke? Misogynie produziert auch eine Unsichtbarkeit, aber es ist die der Ausgrenzung, eine gewalttätige, eine herablassende. Ein Recht auf Unsichtbarkeit zu fordern meint eben nicht die Fortschreibung des Vergessens. Unsichtbar sein ist vielleicht sogar das Gegenteil von Vergessenwerden. Aktivität und Passivität, ihr Komplizinnen, vielleicht seid ihr ein Hinweis? 

Aktivität könnte dabei die euphemistische Wendung der Unterdrückung all dessen sein, was nicht in gewohnter Überlegenheit triumphiert, was verschlungen wird im Mahlstrom patriarchaler Hegemonie. Wenn das neoliberale Wachstumsparadigma jenes ist der gespannten Muskeln, der stets zur Aktion bereiten Körper, voller Angst, nur zu reagieren und in Verzückung des Gehorsams zur Innovation um der Innovation willen, geblendet von der Sehnsucht nach Beschleunigung – dann ist es die Angst vor der Schlaffheit, die diese Muskeln spannt. Passivität, die weise Schwester der Genügsamkeit, der Einsicht und Toleranz, sie gilt es stets zu überholen. In der Kultur des Kapitals genießt die Aktion immer das Privileg vor dem Verzicht. Was aber, wenn dieser Verzicht kein selbstgewählter ist, unterdrückt, stumm, starr vor Angst?

Ich betrete das Haus am Rande der Stadt. Es ist nicht abgebrannt, aber unbewohnt. Ich versuche mich leise zu bewegen. Es ist unmöglich mit den Scherben auf dem Boden. Auf der Veranda ein Lehnstuhl, davor ein Pappkarton voll leerer Dosen, einem Stofftier, ein DVD-Player mit zerbrochenem Frontpanel, im Regen aufgequollenen Zeitschriften. Die Tür zum Haus steht einen Finger breit offen, ich habe keine Mühe einzutreten. Es riecht nach feuchtem Mörtel, ich sehe einen schiefen Schrank, leer, blicke rechts in eine Küche mit herausgerissenen Schubladen, auf dem Boden Zeitungen. Eine Treppe in den ersten Stock. Neben der Treppe auf dem Boden ein verkohlter Fleck, daneben Alufolie. Die Stufen knarren. Der Raum hinter der zweiten Tür links im Flur ist hell. Er scheint mich zu blenden, doch ich weiß nicht, wieso. Ein helles Weiß reflektiert von den Wänden, vom Boden selbst Staub, der hier liegt. Alles scheint sich gegenseitig aufzuladen, an Licht, an Sichtbarkeit. In die Wand eingelassen ist ein Regal, leergeräumt bis auf drei Lumpen, auf dem Boden Fetzen von Plastikfolie, Verpackungsmaterial. So hell ist es, ich kann nicht sehen, richte den Blick zu Boden und spüre die Anwesenheit. Mit gesenktem Blick erkenne ich Dich, indem ich Dich nicht sehe. Ich sehe nicht und weiß es doch und da verschwindest Du wieder. Wie kann ich sehen, ohne zu schauen, ohne zu glotzen, ohne zu wollen – Begreifen ohne zu greifen, Begriff ohne Besitz.

Der männliche (weiße, heterosexuelle) Körper ist eine unhinterfragte Gewohnheit oder, ich denke an Sarah Ahmed, eine Institution: “wenn sich etwas institutionalisiert, verschwindet es aus dem Bewusstsein”.1 Das Institutionalisierte ist das Unbewusste, Farin als Tapete ist das beste Beispiel. Mein und sein Körper sind unmarkierte Teile, wir verschwinden aus dem kollektiven Bewusstsein. Die Hegemonie ist unsichtbar, wie das Design der Macht. Auffällig ist nur die Abweichung, die Differenz.  

Es gibt einen Blick, der darauf aus ist, zu repräsentieren, vielleicht ist es der Blick der Unsichtbarkeit.
Eine visuelle Politik gerechter Verteilung dieser Unsichtbarkeit bleibt aber schließlich doch orientiert an der Logik des Markierens – mit verkehrten Vorzeichen, ein “Transfer ohne Transformation” (bell hooks).2 Was aber wäre eine Vorstellung von Zeichen, abseits einer solchen Hierarchie. Diese Suche hier zu beginnen könnte bedeuten, die Augen zu senken. “Die Gewohnheit stellt keine Fragen”3, schreibt Gayatri Spivak, ich blicke Dich an und wünsche nichts mehr, als diese Sicherheit gerecht zu verteilen. Die Sicherheit, nicht in Frage gestellt zu werden.

1 Ahmed, Sara: On Being Included: Racism and Diversity in Institutional Life, Durham: Duke University Press, 2012.
2 hooks, bell: “THE OPPOSITIONAL GAZE: Black Female Spectators.” In Media Studies: A Reader, edited by Thornham Sue, Bassett Caroline, and Marris Paul, 462-70. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2009.
3 Spivak, Gayatri: An Aesthetic Education in the Era of Globalization, Cambridge: Harvard University Press, 2012.

Foto: © Johann Otten, 2021

Johann Otten (* 1991 in Celle) is curious about the internet, technology, and the future beyond fossils. He mostly thinks about hope, futility, and the meeting of abstract matter with banality. He lives and works in Zurich and Berlin, and writes podcasts and radio plays. In addition to that, he has collected images for more than a decade and works as a freelance photographer–mostly in analogue medium format.