Wir bleiben zuhause. Das klingt nach Einheit, nach Gemeinschaft, nach einer geteilten Erfahrung, selbst wenn Millionen Menschen sie alleine machen. Aber obwohl diese vielen Einsiedler*innen scheinbar alle das Gleiche tun, zerfällt der allgemeine Rückzug in Millionen verschiedener Erfahrungen, denn das eine Zuhausebleiben gibt es nicht. Das muss auch das Berliner Filmkunstinstitut Arsenal bedacht haben, als es über das Streamingprogramm der Lockdown-Woche 2 beschied. Neben dreizehn anderen Videoarbeiten präsentierte der Verein online auch das Experimentalwerk The Time We Killed (2004) von Jennifer Reeves, ein rund neunzigminütiges Porträt der fiktiven New Yorker Dichterin Robyn Taylor, die über Monate ihr Apartment nicht verlässt. Allerdings ist die Bedrohung, vor der sie sich schützen will, keine Pandemie. Robyn Taylor ist agoraphobisch. Der öffentliche Raum und die Menschen, die sich darin stauen können, lösen bei ihr Panik aus. Weil Taylor weiß, dass die Gefahr nur in ihrer Vorstellung existiert, versucht sie, ihre Krankheit im Verlauf der Wintermonate zwischen 2003 und 2004 zu therapieren.
I’m six months a shot-in and now I miss New York as much as I missed escaping it.
Der grobe Schwarzweißfilm und die analoge Wohnung der Dichterin ändern nichts daran, dass die Einstellungen des Films allen Corona-Eremit*innen seltsam vertraut vorkommen müssen. Der Tisch mit der Schreibmaschine nahe der halb heruntergelassenen Jalousie. Die vom langen Verharren eingedellte Sitzfläche der Couch. Das Bett der Dichterin, Taylor schwer atmend in die Decke gewickelt, den verkrampfte Nacken in ein Kissen mit Baumaufdruck gepresst, Äste wachsen aus dem Kopf mit den paralysierten Augen. Die Kamera hält häufig ein bis zwei Meter Abstand zu der Protagonistin. Wird doch einmal ein Close-Up riskiert, verrät Taylors Gesicht Bedrängnis. Die Ästhetik der Agoraphobie ist derjenigen der Pandemie zum Verwechseln ähnlich. Aus dem provisorischen Heimkino betrachtet lässt diese falsche Ähnlichkeit The Time We Killed zu einem Selbsterfahrungsthriller geraten.
It’s always good to escape in a little fiction.
Das Unheimliche entsteht, wenn das Alltägliche plötzlich fremd erscheint. In der Pandemie beginnt das Unheimlichwerden des eigenen Zuhause schon dann, wenn man von jetzt auf gleich das gewohnte Ausgehen und Heimkehren aufhebt und ohne absehbares Ende dableiben will. Der scheinbar vertraute Raum wird durch die neue Nutzung und den anderen Kontext zu einem unbekannten Ort, an den die Einsiedler*innen sich gewöhnen müssen. Obwohl vor der Pandemie nicht unbedingt für Kontinuitätsangebote bekannt, versprechen gerade die Künste ihren Beistand in diesem Prozess: zwar sind Theater, Ausstellungen, Kinos unbesuchbar geworden, durch das Browserfenster kann man aber dennoch in einen der vielen Streams steigen. Viele Kurator*innen präsentieren online Werke, die den neuen Rezeptionskontext nicht thematisieren, vielleicht auch, um das Kontinuitätsversprechen zu halten: Du bist doch im Museum, Theater, Kino. Du steckst nicht im Bett. Du zerknautscht nicht dein Sofa. Und den Laptop hast du auch nicht gerade eben auf deinen Schreibtisch geknallt, weil du dich nach mehreren digitalen Wochen nur noch dann auf den dauerhellen Bildschirm konzentrieren kannst, wenn du aufrecht sitzt. Das selbstverschriebene Zuhausesein als Bedrängnis zu empfinden und beim Streamen über Dinge diesseits der eigenen Wohnung nachdenken zu wollen ist eine der vielen möglichen Erfahrungen, die der Lockdown provoziert. Die eigene Bleibe minütlich neu zu rezipieren und das Ausharren als ewigen Essay zu erleben ist eine andere dieser unendlich vielen Erfahrungen. Wahrscheinlich durchlaufen die meisten Einsiedler*innen sogar beide Zustände in raschem Wechsel. Die Konnotationen von Zuhausebleiben wachsen derzeit exponentiell.
She thinks she would have liked to be a man. She wouldn’t have all these problems.
Im zwanzigsten Jahrhundert gab es nur eine Form des dauerhaften Daheimbleibens: das der Stay-At-Home-Moms, der Hausfrauen. Für einige Künstlerinnen* wurde das verordnete Zuhause zum Atelier, seine Ausstattung zum Material und die patriarchale Architektur zum Gegenstand der Kritik, etwa in der Videoarbeit Semiotics of the Kitchen (1975), in der Martha Rosler das Alphabet anhand von Küchengeräten durchexerziert. Indem diese Künstlerinnen*-Generation eigene Wohnungen bezog und das Zuhause als Safe Studio reklamierte, probte sie auch gleich neue, antipatriarchale Formen des Daheimseins. So experimentierte Martha Wilson zwischen 1970 und 1974 in ihrer Lehrerwohnung in Halifax frei mit Drag. Dass der Mainstream das Zuhausebleiben noch einige Jahrzehnte mit gesellschaftlicher Inexistenz gleichsetzen sollte, schien den Künstler*innen eher die nötige Intimität für Experimente zu gewähren. Um die Versuche dennoch rezipierbar zu machen, filmten viele Künstler*innen ihre häuslichen Performances. Das Video konnte das Alleinsein in zwei Perspektiven zerfallen lassen, beide gleichermaßen selbstbestimmt.
People seem as frightened as I normally do and I feel closer to them.
Auch Jennifer Reeves arbeitet dreißig Jahre später mit der Kamera. Das Zuhausebleiben in The Time We Killed aber ist viel komplizierter als noch bei Rosler und Wilson. Das Brooklyner Apartment befreit und bedrängt, es verdichtet Gefängnis und Refugium in einem einzigen Ort. In unendlich vielen Blicken durch Fenster und Spion kämpft Robyn Taylor mit der Schwelle zum Draußen, will, kann sie aber nicht übertreten. Als sie in der letzten Sequenz des Films schließlich doch auf die Straße tritt, sind ihre aus dem Off verlautenden Gedanken befangener denn je. Draußen erst ist ihr Wahn unaufhaltbar. Taylors urbaner Spaziergang an der Leine eines jungen Hundes ist dann plötzlich das Verstörendste, was man sich vorstellen kann. Ist das alltägliche Brooklyn erst einmal zur Hölle verzerrt, wird auch das Geborgenheitsversprechen der Wände erschreckend brüchig. Als domestiziertes Wildtier erscheint der Hund wie ein Patronus dieser Verunsicherung, schließlich ist es der neue tierische Mitbewohner, der Taylor auf die Straße zwingt. In dieser letzten Sequenz ergibt sich die Frage, ob Agoraphobie auch durch die überstrenge Trennung von Drinnen und Draußen bedingt ist. Dieser Gegensatz zählt zu den vielen simplen Dualismen, die aus der eurozentrischen Zivilisationsideologie entstanden.
I left the cave today and there you were.
Interessanterweise erlangt die bislang willkürliche Scheidung von Drinnen und Draußen unter den Bedingungen der Pandemie eine echte Bedeutung: sie wird zum solidarischen Akt. Solche und andere Wendungen in der Theorie und Praxis des Zuhausebleibens sind es, die jetzt gelingen können. Noch nie sind so viele Menschen unterschiedlichster Identitäten aus guten Gründen und mit gutem Gewissen zuhausegeblieben. Nie haben so viele Menschen mit verschiedensten Privilegien und Benachteiligungen sich mit Häuslichkeit beschäftigt wie jetzt. Unmittelbar vor der Krise war das Zuhausebleiben noch der blinde Fleck mobiler Gesellschaften. Auf Instagram und Youtube wurden vor allem repräsentative Wohnkulissen präsentiert. Während das Zuhause so eine neue Schauseite entwickelte, blieben alle Wohnerfahrungen zwischen Hochgeschwindigkeitsalltag und Mieterhöhung unsichtbar und unerhört. Jetzt aber rezipieren die Vielen ihre Wohnungen neu und machen Millionen von belastenden und befreienden Erfahrungen. In Anekdoten und Telefonaten, sogar in Streams und Stories werden schon jetzt andere Perspektiven auf den Wohnraum erkennbar, die normative, privilegierte und ökonomieblinde Ästhetiken des Zuhause ablösen könnten.
Wir bleiben zuhause. Das klingt nach Einheit, nach Gemeinschaft, nach einer geteilten Erfahrung, selbst wenn Millionen Menschen sie alleine machen. Aber obwohl diese vielen Einsiedler*innen scheinbar alle das Gleiche tun, zerfällt der allgemeine Rückzug in Millionen verschiedener Erfahrungen, denn das eine Zuhausebleiben gibt es nicht. Das muss auch das Berliner Filmkunstinstitut Arsenal bedacht haben, als es über das Streamingprogramm der Lockdown-Woche 2 beschied. Neben dreizehn anderen Videoarbeiten präsentierte der Verein online auch das Experimentalwerk The Time We Killed (2004) von Jennifer Reeves, ein rund neunzigminütiges Porträt der fiktiven New Yorker Dichterin Robyn Taylor, die über Monate ihr Apartment nicht verlässt. Allerdings ist die Bedrohung, vor der sie sich schützen will, keine Pandemie. Robyn Taylor ist agoraphobisch. Der öffentliche Raum und die Menschen, die sich darin stauen können, lösen bei ihr Panik aus. Weil Taylor weiß, dass die Gefahr nur in ihrer Vorstellung existiert, versucht sie, ihre Krankheit im Verlauf der Wintermonate zwischen 2003 und 2004 zu therapieren.
I’m six months a shot-in and now I miss New York as much as I missed escaping it.
Der grobe Schwarzweißfilm und die analoge Wohnung der Dichterin ändern nichts daran, dass die Einstellungen des Films allen Corona-Eremit*innen seltsam vertraut vorkommen müssen. Der Tisch mit der Schreibmaschine nahe der halb heruntergelassenen Jalousie. Die vom langen Verharren eingedellte Sitzfläche der Couch. Das Bett der Dichterin, Taylor schwer atmend in die Decke gewickelt, den verkrampfte Nacken in ein Kissen mit Baumaufdruck gepresst, Äste wachsen aus dem Kopf mit den paralysierten Augen. Die Kamera hält häufig ein bis zwei Meter Abstand zu der Protagonistin. Wird doch einmal ein Close-Up riskiert, verrät Taylors Gesicht Bedrängnis. Die Ästhetik der Agoraphobie ist derjenigen der Pandemie zum Verwechseln ähnlich. Aus dem provisorischen Heimkino betrachtet lässt diese falsche Ähnlichkeit The Time We Killed zu einem Selbsterfahrungsthriller geraten.
It’s always good to escape in a little fiction.
Das Unheimliche entsteht, wenn das Alltägliche plötzlich fremd erscheint. In der Pandemie beginnt das Unheimlichwerden des eigenen Zuhause schon dann, wenn man von jetzt auf gleich das gewohnte Ausgehen und Heimkehren aufhebt und ohne absehbares Ende dableiben will. Der scheinbar vertraute Raum wird durch die neue Nutzung und den anderen Kontext zu einem unbekannten Ort, an den die Einsiedler*innen sich gewöhnen müssen. Obwohl vor der Pandemie nicht unbedingt für Kontinuitätsangebote bekannt, versprechen gerade die Künste ihren Beistand in diesem Prozess: zwar sind Theater, Ausstellungen, Kinos unbesuchbar geworden, durch das Browserfenster kann man aber dennoch in einen der vielen Streams steigen. Viele Kurator*innen präsentieren online Werke, die den neuen Rezeptionskontext nicht thematisieren, vielleicht auch, um das Kontinuitätsversprechen zu halten: Du bist doch im Museum, Theater, Kino. Du steckst nicht im Bett. Du zerknautscht nicht dein Sofa. Und den Laptop hast du auch nicht gerade eben auf deinen Schreibtisch geknallt, weil du dich nach mehreren digitalen Wochen nur noch dann auf den dauerhellen Bildschirm konzentrieren kannst, wenn du aufrecht sitzt. Das selbstverschriebene Zuhausesein als Bedrängnis zu empfinden und beim Streamen über Dinge diesseits der eigenen Wohnung nachdenken zu wollen ist eine der vielen möglichen Erfahrungen, die der Lockdown provoziert. Die eigene Bleibe minütlich neu zu rezipieren und das Ausharren als ewigen Essay zu erleben ist eine andere dieser unendlich vielen Erfahrungen. Wahrscheinlich durchlaufen die meisten Einsiedler*innen sogar beide Zustände in raschem Wechsel. Die Konnotationen von Zuhausebleiben wachsen derzeit exponentiell.
She thinks she would have liked to be a man. She wouldn’t have all these problems.
Im zwanzigsten Jahrhundert gab es nur eine Form des dauerhaften Daheimbleibens: das der Stay-At-Home-Moms, der Hausfrauen. Für einige Künstlerinnen* wurde das verordnete Zuhause zum Atelier, seine Ausstattung zum Material und die patriarchale Architektur zum Gegenstand der Kritik, etwa in der Videoarbeit Semiotics of the Kitchen (1975), in der Martha Rosler das Alphabet anhand von Küchengeräten durchexerziert. Indem diese Künstlerinnen*-Generation eigene Wohnungen bezog und das Zuhause als Safe Studio reklamierte, probte sie auch gleich neue, antipatriarchale Formen des Daheimseins. So experimentierte Martha Wilson zwischen 1970 und 1974 in ihrer Lehrerwohnung in Halifax frei mit Drag. Dass der Mainstream das Zuhausebleiben noch einige Jahrzehnte mit gesellschaftlicher Inexistenz gleichsetzen sollte, schien den Künstler*innen eher die nötige Intimität für Experimente zu gewähren. Um die Versuche dennoch rezipierbar zu machen, filmten viele Künstler*innen ihre häuslichen Performances. Das Video konnte das Alleinsein in zwei Perspektiven zerfallen lassen, beide gleichermaßen selbstbestimmt.
People seem as frightened as I normally do and I feel closer to them.
Auch Jennifer Reeves arbeitet dreißig Jahre später mit der Kamera. Das Zuhausebleiben in The Time We Killed aber ist viel komplizierter als noch bei Rosler und Wilson. Das Brooklyner Apartment befreit und bedrängt, es verdichtet Gefängnis und Refugium in einem einzigen Ort. In unendlich vielen Blicken durch Fenster und Spion kämpft Robyn Taylor mit der Schwelle zum Draußen, will, kann sie aber nicht übertreten. Als sie in der letzten Sequenz des Films schließlich doch auf die Straße tritt, sind ihre aus dem Off verlautenden Gedanken befangener denn je. Draußen erst ist ihr Wahn unaufhaltbar. Taylors urbaner Spaziergang an der Leine eines jungen Hundes ist dann plötzlich das Verstörendste, was man sich vorstellen kann. Ist das alltägliche Brooklyn erst einmal zur Hölle verzerrt, wird auch das Geborgenheitsversprechen der Wände erschreckend brüchig. Als domestiziertes Wildtier erscheint der Hund wie ein Patronus dieser Verunsicherung, schließlich ist es der neue tierische Mitbewohner, der Taylor auf die Straße zwingt. In dieser letzten Sequenz ergibt sich die Frage, ob Agoraphobie auch durch die überstrenge Trennung von Drinnen und Draußen bedingt ist. Dieser Gegensatz zählt zu den vielen simplen Dualismen, die aus der eurozentrischen Zivilisationsideologie entstanden.
I left the cave today and there you were.
Interessanterweise erlangt die bislang willkürliche Scheidung von Drinnen und Draußen unter den Bedingungen der Pandemie eine echte Bedeutung: sie wird zum solidarischen Akt. Solche und andere Wendungen in der Theorie und Praxis des Zuhausebleibens sind es, die jetzt gelingen können. Noch nie sind so viele Menschen unterschiedlichster Identitäten aus guten Gründen und mit gutem Gewissen zuhausegeblieben. Nie haben so viele Menschen mit verschiedensten Privilegien und Benachteiligungen sich mit Häuslichkeit beschäftigt wie jetzt. Unmittelbar vor der Krise war das Zuhausebleiben noch der blinde Fleck mobiler Gesellschaften. Auf Instagram und Youtube wurden vor allem repräsentative Wohnkulissen präsentiert. Während das Zuhause so eine neue Schauseite entwickelte, blieben alle Wohnerfahrungen zwischen Hochgeschwindigkeitsalltag und Mieterhöhung unsichtbar und unerhört. Jetzt aber rezipieren die Vielen ihre Wohnungen neu und machen Millionen von belastenden und befreienden Erfahrungen. In Anekdoten und Telefonaten, sogar in Streams und Stories werden schon jetzt andere Perspektiven auf den Wohnraum erkennbar, die normative, privilegierte und ökonomieblinde Ästhetiken des Zuhause ablösen könnten.
Illustration: Janine Muckermann