Silikon im Kühlschrank: Writing (Post) Illness

“Cancer is a rare and still scandalous subject for poetry; and it seems unimaginable to aestheticize the disease.”

Susan Sontag in Illness as Metaphor, 1977/78.1

Bevor man über die Ästhetik von Brustkrebs nachdenken kann, muss man sich von einer historisch geschärften Idee des weiblichen Körpers freimachen. Die gegenderte Brust ist ein Irrtum. Aber dieser sexualisierte Oberkörper ist nicht das einzige Bild, das überwunden werden muss, um die Krankheit sehen zu können. Die andere Verwirrung ist der Krebs selbst, der nicht einfach nur ein biologisches Phänomen bezeichnet, sondern ebenfalls zum Bild geworden ist, wie Susan Sontag 1977/1978 in ihrem Essay Illness as Metaphor schreibt. Seit der Moderne hat Krebs als unberechenbares Wachstum des Fremden im Eigenen fantastische Theoriebildungen über die Frage provoziert, warum ein Mensch an ihm erkrankt. Lebenslange Unausgeglichenheit habe die Zellen verwirrt. Verdrängtes habe sich zum Tumor gepoolt.2 Sontag glaubte, dass diese toxischen Mythen sich mit zunehmender Erforschung der biologischen Ursachen zurückziehen würde.3 Wenn die Ursprünge der Mutationen besser bekannt seien, würden Beobachter*innen aufhören, die Krankheit mit der Persönlichkeit der Betroffenen zu assoziieren und ihnen kulturelles Unbewusstes aufzupressen.

Eine Fotografie. Der Torso von Dorothea Lynch. Ihr Kopf liegt im Nacken, die Augen bleiben außerhalb des Bildes, der Mund ist zu einem Lachen geöffnet. Dunkle Locken federn über die unbekleideten Schultern. Die Unterwäsche ist vom Körper geschält. Von Lynchs Brustbein zu ihrer Schulter verläuft ein dunkler Fleck. Er hat eine eigentümliche Form. Man kann eine Rose darin sehen und sich daran erinnern, dass der Fotograf des Bilds Lynchs Partner Eugene Richards war. Man kann diese romantische Deutung (die tragische Einschreibung der Paarbeziehung in den todgeweihten, weiblichen Körper) aber auch verwerfen und in der Wunde die Ästhetik der Mastektomie sehen, also die unmittelbaren Spuren der Entfernung der Brust. Dieses Zeichen sieht bei allen Betroffenen anders aus. Und rapide verändert es sich, verheilt, variiert Farbe und Form. Die Fotografie von Dorothea Lynch erfasst ihren Körper unmittelbar nach dem Eingriff 1978 in Boston. Sie zeigt eine Ästhetik, die für die Patientin selbst fremd gewesen sein muss. Denn 1978 konnte Lynch noch keine Bilder von Oberkörpern mit Brustentfernungen finden. Mit dem von Susan Sontag zeitgleich konstatierten metaphorischen Überschuss der Krankheit ging ein paradoxer Mangel an fotografischen Abbildungen einher. Zwar existierten diese Bilder, sie wurden aber von der American Cancer Society zurückgehalten, mit der Begründung, dass sie nicht „suitable“ für Nichtmediziner*innen seien, also unpassend.4 Auch deswegen entschied Lynch, ihre Wunde von Richards dokumentieren zu lassen. Ebenso wollte sie die Oberkörper anderer Mastektomie-Patientinnen* fotografieren, um die ästhetische Vielfalt der Schnitte und Erfahrungen abzubilden. Das Krankenhaus schritt ein. So reiht sich Lynchs Wunde nicht in ein Album der Narben, sondern wird zu einer Aufnahme ihrer persönlichen Behandlungsgeschichte. 1986, postum, publizierte Richards den Band Exploding Into Life, der die Fotografien und die essayistischen Notizen von Lynch versammelt. In Richards’ Rolle überlagern sich Care und Camera Work, vermischen sich Solidarität und möglicherweise ungewollte, aber ausgeübte Autorität. Lynch konnte den Band nicht mehr selbst autorisieren, ihn nicht verhindern, aber auch nicht veröffentlichen. In einer Praxis von Writing Illness hatte sie die Krankheit bewusst literarisch und visuell abgebildet, hatte Deutungssouveränität beansprucht. Wie Andere dieses Gegenwissen aber nach ihrem Tod konservieren und umschreiben würden, wusste sie nicht. So notiert sie schließlich in Exploding Into Life, „I do not know what will survive from this new knowledge.“5

Dorothea Lynch, aber auch Susan Sontag und zahlreiche weitere Autor*innen und Künstler*innen schufen ab den 1970ern andere Darstellungen der Krankheit. Sie produzierten ein Archiv unpassender Bilder, die sowohl mit Krebs als Metapher als auch mit Konstruktionen des weiblichen Körpers brechen. Während Sontag ihre Hoffnungen in das aufklärerische Potential der Forschung gesetzt hatte, störte wohl eher diese poetische Wissensproduktion die vulgärpsychologische Mystifizierung der Krankheit. Allerdings kann beides nur bedingt gewirkt haben. Noch ein halbes Jahrhundert später werden weiter verunklarende Bilder an die Körper von Betroffenen geheftet. Zuschreibungen, die den Patient*innen als Befremdung erfahrbar sind. Als Erfahrung einer wesentlichen Unstimmigkeit zwischen der eigenen Diagnose und der Interpretation anderer. Diese letzten Sätze sind ebenfalls Zuschreibungen, fehlbare Bilder, denn ich weiß nicht, wie es ist, an Brustkrebs zu erkranken. Wie es aussieht, wenn der eigene Körper eine solche Narbe trägt. 

Es ist Nacht. Der Kühlschrank steht offen. Das Innenlicht flutet durch die Plastikboxen und bringt die Einmachgläser zum Glühen. Es ist ein gängiges Phänomen; nachdem man ausgezogen ist, füllt sich der Kühlschrank der eigenen Eltern mit absonderlichen Dingen. Plötzlich finden sich darin Produkte, die früher nie vorrätig waren. Im Kühlschrank von D. lagert auf einem Stapel aus Dosen und Tellern jetzt ein dicker, fleischfarbener Silikontropfen, doppelt so groß wie meine Faust. Ich lege den Finger auf die Oberfläche des Objekts. Es ist kalt und glatt. Wenn man in das Material drückt, gibt es nach, bleibt aber fest und elastisch. Noch nie habe ich die Prothese gesehen oder angefasst. Ich lasse den Kühler offen stehen, hole mein Handy und mache ein Bild. Ein unpassendes Foto. Dann spüre ich den Hunger wieder. In der Box unter der Prothese erkenne ich die unscharfen Umrisse der Reste vom Abendessen. Um meinen Snack aus der Dose zu befreien, schichte ich die Silikonbrust auf einen anderen Stapel. Warum sie gekühlt werden muss, weiß ich nicht. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass sie nicht in dieses Mosaik passt. Wahrscheinlich, weil sie mit ihrer sterilen Künstlichkeit die Regel dieses Arrangements bricht, in dem sonst alles aus ökologisch-nachhaltiger Landwirtschaft stammt, die Esskastanien, die Seitanwürste und der Ziegenkäse mit Wildblütenrand. Während ich weiter in das helle Innere blicke, verstehe ich, dass es hunderte Kühlschränke geben könnte, in denen jetzt gerade unterschiedlich geformte Prothesen ruhen. Dass in dieser Nacht sogar in einigen Hotel-Minibars desinfizierte Brustimitationen neben Dosen von Cola und Gin Tonic schlummern könnten. Ich verstehe, dass das Foto, das ich gemacht habe, kein neosurrealistisches Meme ist, das ich mit Freunden als digitale Nokturne teile. Die Abbildung ist das Dokument des pragmatischen Nebeneinanders einer alten und einer neuen Normalität, ein Bild, das nach einiger Zeit und mit Gewöhnung passend erscheint, also zuallererst denjenigen, die es jeden Morgen sehen, wenn sie die Hafermilch aus dem Kühlschrank holen. D. zum Beispiel. Dieses Bild kann nicht zurückgehalten werden.6 Die Darstellung von D.s Kühlschrank existiert jetzt, die Imagination von den Lagern anderer Prothesen auch. Vielleicht sieht mein Lebensmittelfach eines Tages auch so aus.  

Was sich seit der Veröffentlichung von Sontags Krankheit als Metapher verändert hat, ist die Sterblichkeit. Brustkrebs kann in der Gegenwart häufig geheilt werden. Trotzdem behält die Diagnose Krebs ihre fatalistische Konnotation. Die alte, dumpfe Metapher entleert den Inhalt vielversprechender Prognosen und macht die Genesung so zu einem unmöglichen Bild. Dieses Bild muss vorstellbar werden, nicht nur um Betroffenen realistische Szenarien zuzugestehen, sondern auch um die vielen Genesenen anzuerkennen, deren Alltag das Überlebthaben ist. Ihre Körper sehen dann meist anders als zuvor aus, die Kühlschränke ebenso. Eine zeitgenössische Praxis von Writing (Post) Illness kann Eindrücke des weiterhin geschehenden Sterbens neben Bilder von Genesungen, alten Narben und gekühlten Prothesen stellen. Wenn man, wie die American Cancer Society, bestimmte Bilder von Krebs als „not suitable“ klassifiziert, vermittelt das auch, dass es passende Darstellungen geben könnte. Aber diese angemessenen, gar ikonischen Bilder sind unmöglich. Es gibt nur fehlbare, emotional dissonante Darstellungen. Brustkrebs wird in unpassenden Bildern sichtbar, die den Metapherngehalt aufwühlen und die Fantasie eines weiblichen Körpers kippen. Sie müssen beunruhigen. Writing (Post) Illness, also die ästhetische Aneignung der Krankheit in der Tradition von Lynch und anderen Politicized Patients der 1970er und 1980er, konnte und kann es nur als wilde, prismatische Brechung der absurden Bilder geben, die auf Betroffene projiziert werden. Der Blick in den Kühlschrank zählt dazu.

1 Sontag, Susan: Illness as Metaphor, New York 1977/78, S. 20.
2 Vgl. Sontag, Susan: Illness as Metaphor, New York 1977, S. 21, 23, 40, 42.
3 Vgl. ebd., S. 5.
4 Sile, Agnese: “Exploring Intimacy in Collaborative Photography Narratives of Breast Cancer”, in: Humanities, 9 (1), Edinburgh 2020, S. 5.
5 Lynch, Dorothea; Richards, Eugene: Exploding Into Life, New York 1986, S. 60.
6 D. hätte es zurückhalten können. Sie hat der Veröffentlichung dieses Bildes zugestimmt.

Foto: Schwermaschinenbau „Ernst Thälmann“, Kühlschrankproduktion, Bundesarchiv, Bild 183-61891-0001 / Biscan / CC-BY-SA 3.0

Lena Schubert is a writer exploring art in the contexts of housing and the city, histories of knowledge, sustainability, and psychology. Her post-critical essays derive from critical theory rather than traditional art critique. She partly takes detours into fiction.