Rethinking time and shared spaces through performative practices

Im Englischsprachigen handelt es sich bei einem Shareholder (Anteilseigner:in) um eine Person,1 die einen Anteil an einer Kapitalgesellschaft innehält und folglich Mitspracherecht hat. Welche Strukturen dabei vorherrschen, und welche Bedingungen einem Menschen ermöglichen diese Position zu bekleiden, sind komplex. Oftmals ist eine solche Position mit Ausschluss verbunden. Ein kleiner Kreis entscheidet, und das in der Regel über eine große Mitarbeiter:innenschaft. Mit Teilen hat es weniger zu tun, schon eher mit mitteilen. Die Gesprächsrichtung ist dabei einseitig vorgegeben, verstärkt durch ein Hierarchiegerüst.

ShareHolders heißt die dreiteilige Performance-Ausstellungsreihe von MontagModus. Als Wortspiel kehrt sie dabei nicht nur Machthierarchien um, sie versucht auch, durch partizipative Formate einen Austausch, eine Zusammenarbeit zwischen Performer:innen und Zuschauer:innen zu schaffen. Es geht um Gemeinschaft, Zusammenhalt und Wärme über Länder- und Gendergrenzen hinweg. Teilen und Halten werden hier zu Schlüsselbegriffen, die erkundet, erprobt und besprochen werden. Die Auftaktveranstaltung konzentriert sich neben gesellschaftlichen auch auf klimatische Veränderungen unserer pandemischen Zeit, auf die Voraussetzungen des Zusammenkommens und auf die Politiken, die über das Teilen von Räumen entscheiden.

An einem Tisch am Ufer des Radialsystems in Berlin-Kreuzberg nehme ich Platz und lausche Maria Magdalena Kozłowskas Opera to the People. In einem Ruderboot fährt die Performerin auf der Spree entlang und muss dabei den Wellen der vorbeieilenden Partyboote standhalten. Wenig später stehe ich auf und gehe zu einem Zelt auf der Wiese. Darin trägt der Theatermacher Pankaj Tiwari das Konzept von TENT: A School of Performative Practices vor, einer dezentralen, nomadischen Institution, die als offene Plattform mittels interaktiver Formate wie Gespräche und gemeinsame Abendessen einen Austausch zwischen Künstler:innen, Interessierten und Denkschulen kreieren möchte. Währenddessen verteilt die inzwischen an Land zurückgekehrte Maria Magdalena Kozłowska Reiskörner an die umherstehenden Zuschauer:innen, die für das metaphorische Forttragen und Fortpflanzen der Idee von TENT stehen sollen. Pankaj Tiwari lädt die Besucher:innen auch zu einem gemeinsamen Dinner in das Zelt ein. Eine aufgenommene Version des Vortrags liegt als Tonspur über einem Video, das an die Decke des Zeltes projiziert wird. An diesem Abend ist Maria Magdalena Kozłowska Gast im TENT und entwickelt gemeinsam mit Pankaj Tiwari die Performance Constructive Interference, die Fragen von Nähe aushandeln und damit liquide Formen von Beziehungen initiieren soll.

Die Sonne senkt sich langsam über der Spree, als ich die Treppen zu der Terrasse des Radialsystems hinuntersteige. Ich befinde mich nun auf dem „Deck“. Hier beginnt die Performance Rub your face onto your shoulder von Sunny Pfalzer und Marshall Vincent als geführte Meditation. Zuschauer:innen nehmen auf mit roten Strichen bemalten Kissen und Stoffen Platz, sie legen sich hin, machen es sich bequem. Bemalte Tücher hängen wie Segel zwischen den Betonpfeilern und rahmen den Raum, kreieren eine Gemütlichkeit. Sunny Pfalzer liegt auf dem Boden und atmet ins Mikrofon, kurz darauf steht they auf und bittet uns Zuschauende die Augen zu schließen. Sunny Pfalzer nimmt uns mit auf eine gedankliche Reise durch das Gebäude, hinunter auf den Platz vor dem Eingang, wo das Zelt von Pankaj Tiwari steht, schmeichelt uns mit den sanften Gesängen von Marshall Vincent und teilt eine Geschichte mit uns: Die Kissen, auf denen die Zuschauer:innen liegen, waren im vergangenen Jahr Teil einer Performance. Sie wurden getragen, sie wurden umarmt, sie sind aufgeladen von einem Miteinander, das war. Nun sind sie in der Gegenwart Stellvertretende der damaligen Performenden und umarmen die auf ihnen Liegenden. Mit geschlossenen Augen lösen sich zeitliche Verankerungen und ein Gefühl der Verbundenheit schleicht sich ein. Als Sunny Pfalzer uns anbietet, die Augen wieder zu öffnen, steht die orangene Sonne so groß und flach am Horizont, dass es schwer ist, die beiden Akteur:innen zu sehen, doch scheint es hier auch nicht um das Zusehen, das Beobachten der Performer:innen zu gehen. Vielmehr ist die achtsame Reise ins Innere, um die Verbundenheit mit Vergangenem, Gegenwart und Zukünftigem in Form einer Umarmung zu spüren, im liminalen Mittelpunkt, mit auslaufenden, flammenden Rändern, wie die der Sonne.

Durch das Beton-Treppenhaus hindurch schwebe ich wieder ins Erdgeschoss und finde mich in einem Saal ein, in welchem die Videoinstallation DEBRI von Maru Mushtrieva und Liudmila Savelyeva auf Zuschauende wartet. Diese betreten neugierig die immersive, ovale Fläche am Boden, auf die die verpixelte Videoarbeit projiziert wird und versuchen die kleinen viereckigen Teile mit der Kraft ihrer Körper anzuziehen. Manchmal scheint es sogar zu funktionieren und die Pixel versammeln sich an den auf der Projektionsfläche Stehenden. Doch dann formen sich die Bildpunkte zu Text, kommunizieren mit uns Umherstehenden, um uns dann auf eine Tour durch gerenderte, unwegsame Farnwälder und verkraterte, mit wassergefüllte Gesteinslandschaften mitzunehmen. Computeranimierte, numerische Gegenden, die lebensfeindlich für Menschen wirken. Sind sie Parabeln für ein dystopisches Zukunftsszenario einer menschengemachten Welt? Die audiovisuelle Installation entstand aus dem Forschungsprojekt Efflux and Remnants und untersucht „Debris“ – aus dem Russischen übersetzt eine Bezeichnung für unwegsame Wälder – als Oberbegriff für komplexe, unerforschte Begebenheiten. Sie stellt einen Bezug her zu freizugänglichen Räumen und Weltraumerkundungen, die nicht nur Schrott und Abfall in der Erdumlaufbahn hinterlassen haben, sondern auch Fragen von geteilten Räumen aufwerfen. Wie können wir miteinander leben, wenn wir unsere Lebensräume und die vieler tierischer und pflanzlicher Organismen unbewohnbar machen?

Das Musiktheater Unfurl the Jukebox Musical: a shareable cypher von Justin F. Kennedy, Emma Waltraud Howes, Ethan Braun, Caterina Veronesi, Marcel Darienzo und Marta Martino nimmt die Besucher:innen mit auf einen kalten und klimatisch anspruchsvollen Himmelskörper. Und auch in einem anderen Raum werden die Besucher:innen mitgenommen in eine kosmische Welt. Serafine1369 erforscht in der über den Abend fortwährenden Performance III (something flat, something cosmic, something endless) Transformationen und Dauerzustände, Wiederholungen und Ausweitungen. Raum und Zeit scheinen sich in den gesprochenen Texten wie im Traum aufzulösen, der performende Körper sich simultan zu beugen, zu transformieren. Serafine1369 hinterfragt das kolonialistische und kapitalistische Konzept von Zeit, das sich aus linear vorgegebenen Minuten und Stunden zusammensetzt, und nimmt sich Raum für eine eigene Zeitschreibung, indem they sich mal zeitlupenartig, mal rasant und mal unmerklich bewegt. Als würde die Zeit stillstehen, rückwärts laufen oder sich doch in hoher Geschwindigkeit fortsetzen. In ähnlicher, Raum-Zeit-auflösenden Manier findet die Performance Sprawled Soilware von Hollow & Omsk Social Club online statt und führt als erweitertes Audiowalk-Erlebnis mittels Smartphone ortsunabhängig durch hybride, technologische Landschaften.2

Sieben verschiedene Performance-Ansätze teilen sich wie unterschiedliche Planeten den gleichen Orbit, sie umkreisen Fragen von Nähe und Distanz, von Teilhabe und Schenken, von Entfernen und Transformieren. ShareHolders ist eine erlesene Auswahl an interaktiven Andockstationen für die autopoietische Feedbackschleife,3 als Wechselspiel mit den ko-präsenten Zuschauenden oder, um es mit den Worten von Şeyda Kurt zu sagen: „Es ist eine Utopie der Gleichzeitigkeit einer postkapitalistischen Gesellschaft, in der die Menschen ineinander aufgehen.“4 Indem uns Zuschauenden die Möglichkeit gegeben wird, zwischen den Performances zu wandeln und sogar Teil von ihnen zu werden, indem die Performances lineare Zeitschreibungen hinterfragen und somit aufzulösen versuchen, lassen sich vielleicht auch Gemeinschaften neu denken, die im Kapitalismus allzu oft von einem erschöpfenden und hierarchischen Gegeneinander geprägt sind. So können auch Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen, die in hegemonialen Zusammenkünften häufig zum Schweigen gebracht werden.

1 Hiermit ist entweder eine sogenannte natürliche (menschliches Individuum) oder juristische Person gemeint (z.B. ein Verein oder eine Organisation).
2 soilware.net
3 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Die Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004.
4 Şeyda Kurt, Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, Hamburg: HarperCollins, 2021.

Titelbild: Sunny Pfalzer & Marshall Vincent, Rub your face onto your shoulder; Foto: Dorothea Tuch

Pankaj Tiwari, TENT: A School of Performative Practices; Foto: Dorothea Tuch

SERAFINE1369, III (something flat, something cosmic, something endless); Foto: Dorothea Tuch

Sunny Pfalzer & Marshall Vincent, Rub your face onto your shoulder; Foto: Dorothea Tuch

Janine Muckermann is a visual artist and cultural theorist. She co-founded POKUS in early 2019. In her writings she mainly focuses on the connection between text/dance/movements and on performative processes, referring to intersectional questions of power, knowledge, accessibility, and feminist spatial practices.