Protect me from what I don’t want

Zwei elegant gekleidete Damen schreiten im Gleichschritt ineinander gehakt einen Straßenabschnitt entlang. Beide tragen, dem Zeitgeist entsprechend, schmale, den Knöchel umspielende Röcke zu breiten Hutkrempen, daran angepinnt eine Art Schleier, der die untere Hälfte des Gesichts verdeckt. Diese Schwarzweißfotografie, die im Frühjahr 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie im Internet wochenlang als Modephänomen der Spanischen Grippe gefeiert und geteilt wurde, um dann in bester Tradition des 21. Jahrhunderts als aus dem Kontext gerissene, historisch falsche Einordnung entlarvt zu werden, zeigt in Wirklichkeit mutmaßlich eine deutsche Straßenszene aus dem Jahr 1913. Obwohl weitere Hintergründe der Fotografie unbekannt sind, lässt die Bildunterschrift verlauten, dass die abgebildeten, „in der Türkei üblichen Nasenschleier“ wohl keine Folge der fünf Jahre später startenden, größten Pandemie des 20. Jahrhunderts waren, sondern vielmehr eine Reaktion auf den damals in Osteuropa tobenden Balkankrieg. Durch die Berichterstattung über dieses Ereignis wurde die Verschleierung des Gesichts reproduziert und als modisches Statement aufgegriffen. Dennoch scheint das Bild im Rückblick fast eine Vorahnung auf das zu sein, was durch die Spanische Grippe Alltag werden sollte: Die Mundschutzmaske.

Mode wird oftmals als „Seismograf der Gesellschaft“ bezeichnet. Ihr wird die Fähigkeit zugeschrieben, auf Ereignisse, Gefühle und Ideen einer Gesellschaft vorgreifen und sie ästhetisch andeuten zu können, bevor diese anderweitig erkennbar werden. Walter Benjamin formulierte 1940 in seinem Passagenwerk: „Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im [V]oraus nicht nur um neue Strömungen der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen.“1

Knapp hundert Jahre später sind unsere Gesichter ab der Hälfte wieder verhüllt – diesmal von Atemschutzmasken („Behelfsmasken“, wie es für die meisten Exemplare juristisch korrekt heißen muss), die sich in ihrer kreativen Ausarbeitung selbst übertreffen. Dass wir gesellschaftlich auf so ein Ereignis nicht vorbereitet waren, ließ sich auch am Mangel verfügbarer Masken zu Beginn der Pandemie erkennen. In der Mode hatte das Kleidungsstück dabei schon lange vorher seinen Auftritt: Labels wie Off-White oder Fendi verkaufen seit Jahren Atemschutzmasken. Billie Eilish erschien im Januar 2020 mit einer (medizinisch unwirksamen) Mesh-Maske von Gucci bei den gerade noch öffentlich stattfindenden Grammy Awards. Die französische Nachwuchsdesignerin Marine Serre schickte ihre Models in einer für das Frühjahr 2020 erdachten, dystopisch anmutenden Kollektion mit passend abgestimmten Mundschutz über den Laufsteg – eigentlich in Reaktion auf die steigende Bedrohung des Klimawandels und die damit einhergehende Luftverschmutzung. Erneut erscheint das im Rückblick wie eine Art Vorahnung.

Auf was für eine Zukunft könnte es sich also nun vorahnen lassen, wenn wir aktuelle Trends der Mode betrachten? Als ich im letzten Oktober für eine Kostümbildarbeit über die Frankfurter Einkaufsstraße Zeil flanierte, sprangen mir aus den Schaufenstern tausend Modelle verschiedener Utility-Hosen mit Camouflagemuster entgegen, die sich in ihrem Design nicht vom Original, erhältlich im Nato-Shop um die Ecke, unterscheiden ließen. Bei Zara Men stolperte ich zudem über ein Kleidungsstück, das wie eine kugelsichere Weste aussah. Dieses Phänomen ist zugegebenermaßen kein ganz neuer Trend – Camouflage und Military Style haben eine lange Tradition in der Mode und wurden sowohl von Konter- als auch Massenkultur aufgegriffen und umgedeutet. Obwohl die Muster und Schnitte nach wie vor im Militär eingesetzt werden, haben sie dadurch an Schockpotential verloren: Im Sinne Baudrillards könnte man sagen, dass sich die Militärreferenzen von ihrem Ursprung gelöst haben und so bedeutungslos geworden sind2 – Camouflage als verspieltes Accessoire. 

Es gibt darüber hinaus jedoch einen anderen gegenwärtigen Trend, der sich dieser Ästhetik annimmt und sie politisiert: Survivalism, wortwörtlich übersetzt Überlebenskunst, ist eine Bewegung, die sich einem bestimmten Lebensstil verschreibt und diesen nicht zuletzt über ihre Kleidung kommuniziert. Menschen, die sich auf vermeintliche Katastrophen, Angriffe und den „Weltuntergang“ vorbereiten – am sichtbarsten als Prepper, etwas subtiler in der überspitzten Praxis und Ästhetisierung von Outdoor-Extremsport. Survivalism bezeichnet eine zukunftspessimistische Grundhaltung, die durch das Horten von Nahrungsmitteln, Kampfrhetorik, und eben dem Tragen von Camouflage, Funktionskleidung und Militäruniformen kompensiert wird. 

Nun ist die klassische Zielgruppe von Zara vermutlich kein Prepper, und die „Ausrüstung“, die sich dort finden lässt, würde auch niemanden vor irgendeiner realen Gefahr beschützen. Die Tatsache, dass der gleiche Stil dort aber nun in Masse verkauft wird, verwandelt ihn in etwas Begehrenswertes – er wird zu Mode. Das gibt ihm ungewollt Bedeutung: „Die Apokalypse ist stylisch, weil sie Pessimismus, Ironie und Gleichgültigkeit kommuniziert“, erklärt der Autor und Stratege Lucas Mascatello bei HighSnobiety.3 „So als ob man raucht und trinkt, weil wir irgendwann eh alle sterben. Statt der klassischen Außenseiterhaltung des ‚Scheiß auf die Welt‘ ist es viel cooler zu sagen: „‚Die Welt ist am Arsch.‘“ Kulturpessimismus zum Anziehen also.

In der Modepsychologie gibt es verschiedene Theorien, die erforschen, wie sich Kleidung auf die eigene Selbstwahrnehmung und kognitive Leistung auswirkt. Die wohl prominenteste Studie stammt dabei von den amerikanischen Sozialpsychologen Adam D. Galinsky und Hajo Adams; sie prägten den Begriff „Enclothed Cognition“ – Eingekleidete Wahrnehmung.4 Er geht auf einen Versuch zurück, bei dem Testpersonen in einen weißen Kittel gesteckt wurden. Hatte man ihnen das Kleidungsstück als Ärzt*innenkittel vorgestellt, schlossen sie in einem Leistungstest deutlich besser ab, als andere Teilnehmer*innen, die das gleiche Textil für ein Maler*innengewand hielten, oder es überhaupt nicht als besondere Berufskleidung deklariert bekommen hatten. Die Forscher schlussfolgerten daraus, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Attributen, die wir bestimmten Gesellschaftsgruppen zuweisen, und ihrer üblichen Kleidung.  Diese Erwartung ist so tief eingeschrieben, dass sie sich auf unsere Wahrnehmung und auf unser Verhalten auswirkt. Kleidung ist nie einfach nur Kleidung, sondern eine Verkörperung kultureller Assoziationen, gegen die wir uns kaum wehren können – weder emotional noch kognitiv.

Wenn Survivalism aber Verkörperung von Kulturpessimismus, Weltuntergang und Kampfbereitschaft ist, sollten wir darüber nachdenken, wie dieser Trend unser Empfinden beeinflusst – und wer ihn prägt. Wir könnten zum Beispiel fragen, warum er prädominant (aber nicht ausschließlich) in der Männermode zu finden ist und welche Stereotype er somit bedient. Und warum er zeitgleichen Aufschwung mit den von rechts gekaperten, so genannten „Hygienedemos“ erfährt – bei denen es unter anderem ja darum geht, gegen das Tragen tatsächlicher Schutzkleidung zu protestieren. Interessanterweise ist die Atemschutzmaske eigentlich auch ein Grundbestandteil von Survivalism-Ausrüstung. Wenn ihr Tragen allerdings notwendig ist und von der Regierung vorgegeben wird, verliert ihre Symbolik an Bedrohlichkeit und verwandelt sich in ihr Gegenteil, sie wird zum Schutzsymbol. Dadurch bleibt ostentativen Überlebenskünstler*innen in ihrem Einschüchterungsversuch nur noch die Möglichkeit, die Maske demonstrativ abzulehnen, denn darum geht es bei Survivalism: um die Aneignung und Umdeutung der Symbolik von Schutz in die des Angriffs. 

Camouflage wurde ursprünglich dafür entwickelt, Soldaten*innen in der Natur zu tarnen; in der städtischen Kulisse werden ihre Träger*innen jedoch hypersichtbar. Dieses Phänomen nutzen auch viele der Leute , die vor einigen Wochen beim Angriff auf das Capitol in Washington beteiligt waren, im Army-Stil gekleidet. „Die Randalierer in Washington haben sich Camouflage und weitere Kampfaufmachungen willentlich zu eigen gemacht“, schreibt Vanessa Friedmann in der New York Times, „Es ging ihnen nicht um das Tragen von Camo-inspiriertem Muster mit all der implizierten ironischen Neubewertung; es ging darum, tatsächliches Camouflage zu tragen und Soldat zu spielen.“5

All diese Eindrücke sollten nicht zu der Frage führen, ob man Camouflage noch tragen darf oder nicht. Es geht stattdessen um eine sensible Auseinandersetzung mit der Geschichte militärischer Kleidung, ihrer Wirkung auf uns und unser Umfeld, die Frage, ob und wie man sie heute noch subversiv einsetzen kann – und wer an dem Trend Geld verdient. Survivalism gedeiht in Zeiten weltweiter Unsicherheit, und es ist eine der wesentlichen Aufgabe von Kleidung, Schutz zu verleihen – physisch unserem Körper, und symbolisch unserem Selbst. Bis der Impfstoff alle Bevölkerungsgruppen erreicht hat, wird es auch ein Stück Textil sein, das uns schützt – nicht aber eine dünn gefütterte Polyesterweste im Military-Stil. Die Atemschutzmaske bildet in dieser Hinsicht quasi das dialektische Pendant zu Survivalism. Denn es geht bei der Pandemie nicht darum, sich auf einen Kriegsangriff vorzubereiten, sondern sich und das eigene Umfeld vor einem Virus zu schützen. Die gefragte Überlebenskunst heißt hier Rücksicht und Aushalten. Mit dem Tragen der Maske gestehen wir uns ein und kommunizieren, dass unsere Körper verwundbar sind. Das steht im Gegensatz zur reinen Pose des Aufrüstens. 

1 Benjamin, Walter. Das Passagenwerk, Frankfurt am Main 1927-40, Bd. 1, S. 118.
2 Baudrillard, Jean. Simulacres et simulation, Michigan 1981 (1994), S. 1-30.
3  „The apocalypse is stylish because it communicates pessimism, irony, and indifference — like being a smoker or drinking hard because we’re all going to die anyway. Rather than the classic outsider stance of ‚Fuck the World,‘ it’s infinitely cooler to say, ‚The World is Fucked.’“ Mascatello, Lucas. „Why Fashion Is So Turned on By the Apocalypse“, in: Highsnobiety.com, 17.04.2020. URL: https://www.highsnobiety.com/p/apocalypse-fashion-trend-analysis/.
4 Jarrett, Christian. „Introducing ‚enclothed cognition‘ – how what we wear affects how we think“, in: Research Digest, 01.03.2012. URL: https://digest.bps.org.uk/2012/03/01/introducing-enclothed-cognition-how-what-we-wear-affects-how-we-think/.
5 „The rioters in Washington embraced camouflage and other kinds of battle regalia with literal intent […]. For them, it was not about wearing camo-inspired print, with all the ironic reassessment that implies; it was about wearing actual camo and playing soldier.“ Friedman, Vanessa. „Can I Still Wear Camouflage After the Insurrection?“, in: The New York Times, 15.01.2021. URL: https://www.nytimes.com/2021/01/15/style/camouflage-associations.html.

Bild: © Annika Gralke, 2021