Mäandern, beutelpoetisch

What kills your creativity?“ – „Making a piece.

Beginnen wir mit einer Geschichte: Lisas erste Konfrontation mit dem Thema Klimakrise war das Ozonloch und die damit verbundene Gefahr zu starker Sonneneinstrahlungen. Vor allem in Australien und Neuseeland, wo Lisa aufgewachsen ist, war diese ganz reale Gefahr in den 1990er-Jahren ein allzeit präsentes Thema. Lisa erinnert sich an den Wetterbericht, der regelmäßig darauf hinwies, dass z. B. nach sieben Minuten ein gefährlich hohes Sonnenbrandrisiko besteht. 

Jede gute Geschichte stellt Fragen, die größer sind als wir selbst. Oder wie Donna Haraway schreibt: „Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen.“1 Folgen wir für einen Moment der Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin, die einen ähnlichen Gedanken formuliert: Am Anfang der Menschheitserzählung, so ihre These, stand nicht der Speer, sondern vielmehr ein simpler Behälter im Mittelpunkt. Haben Geschichten vom Jagen und Töten seit jeher unsere Evolutionsgeschichte dominiert und den Eindruck vermittelt, dass nur heroische Taten (männlicher) Einzelner die Essenz großer Erzählungen bilden können, bietet das Beutelmotiv eine alternative Geschichte der Mensch- und Kulturwerdung. In ihrem 1986 erschienenen Essay The Carrier Bag Theory of Fiction 2 entwirft Ursula K. Le Guin eine feministische Technologiegeschichte, die das kollektive Sammeln und Erzählen als Werkzeug für die Weltgestaltung nutzt. Nicht also die phallischen Stöcke, Speere und Schwerter, das Hauen und Stechen, sondern Beutel, Tragetuch und Gefäß, das Sammeln und Bewahren stehen für sie am Anfang von Kultur: „Die Mammutjäger mögen prominent auf Höhlenwänden prangen und unsere Vorstellung besiedeln, doch um lebendig und wohlgenährt zu bleiben, sammelten wir Samen, Wurzeln, Sprossen, Triebe, Blätter, Nüsse, Beeren, Früchte und Körner, mit Käfern und Weichtieren, in Netzen oder Schlingen […]“3, schreibt Le Guin.

Es ist diese Vorstellung vom gewaltfreien Sammeln und kollektiven Erzählen, die die Grundlage bildet für das Performanceprojekt The End is not an Option des Performancekollektivs BAG. Das über mehrere Monate aufgespannte und in vier zweiwöchentlichen Residenzen an wechselnden Orten verweilende Projekt versteht sich analog eines mäandernden Flusses als ein Sammeln in Bewegung, das nomadisierend von Publikum zu Publikum zieht, mit ihm neue Geschichten und Dinge einsammelt und gemeinsam weiterspinnt. 

Von einem Gemeinschaftszentrum in Berlin-Marzahn über Wahrenberg in Sachsen-Anhalt zurück ins Berliner FELD Theater und schließlich in die Vierte Welt am Kottbusser Tor in Kreuzberg reisend, sammeln sie, teilen, verteilen, erinnern, ernten, spekulieren, lernen von- und miteinander über Kapitalismus, Kollektivität und Klimakrise – über die großen Erzählungen, die uns verbinden oder eben trennen. Jeder der besuchten Orte eröffnet einen anderen Kontext, birgt andere Geschichten, Traditionen und Konflikte und andere Hindernisse in der kollektiven Verständigung.

Zu Gast im Stadtwerk Marzahn, der modernen Satellitenstadt aus DDR-Zeiten, wurden im Hochsommer Zelte aufgebaut, unter deren Schutz eine morning practice angeboten und gemeinsam mit der Nachbarschaft Mangold mit Nudeln gekocht wurde. In Wahrenberg, einem kleinen Dorf an der Elbe in Sachsen-Anhalt tanzte das Kollektiv mit einer alternativen Dorfgemeinschaft und diskutierte, was es bedeutet, wenn „the End is not an Option“. Im FELD Theater, einem Kinder- und Jugendtheater am Nollendorfplatz, wurden Workshops für Jugendliche mit Fluchterfahrung veranstaltet und Möglichkeiten ausprobiert, spielerisch und unabhängig vom Sprachenwirrwarr miteinander zu kommunizieren. 

Als Gegenbild zum phallozentristischen Heldenepos experimentiert das BAG Kollektiv auch mit der eigenen Arbeitsorganisation. Die Tänzer:innen und Choreograf:innen Lisa Densem, Roni Katz, Manon Parent, Annegret Schalke, Xenia Taniko und Maya Weinberg versuchen alle Verantwortungen und Aufgaben miteinander zu teilen und gleichzeitig die besonderen Fähigkeiten, die jede:r mitbringt, z. B. in Licht- und Setdesign, Komposition, Schlagzeug spielen, Dramaturgie oder Atemtherapie zum Gewinn aller zu nutzen. Dabei sind es vor allem die Differenzen und Konflikte, die eine Arbeit im Kollektiv erschweren und Offenheit und Ausdauer von den Einzelnen verlangen. Differenzen gemeinschaftlich so auszuhandeln, dass Widersprüche sichtbar bleiben und anerkannt werden, und dass die Erfahrung der Mehrstimmigkeit ihre Bedrohung verliert, bedeutet vor allem ein Vertrauen darauf herzustellen, dass Widersprüchliches ausgehalten und Unterschiedliches miteinander verbunden werden kann.

Solche Erfahrungen mit der eigenen kollektiven Arbeit werden in den Aufführungen immer wieder thematisiert; und vor allem in der Performance in der Vierten Welt, der letzten Station des Projekts, auf der Bühne mit dem Publikum geteilt. Die gemeinsame Reise nacherzählend unterbrechen und widersprechen sie sich einander ergänzend. Eine fängt an zu reden, die andere unterbricht und spinnt den Faden auf ihre Weise weiter, sodass deutlich wird: Hier verknüpfen sich viele verschiedenen Perspektiven zu einer Erzählung, die zugleich widersprüchlich und konsistent ist. Jede erzählt die Geschichte ein bisschen anders. Für Lisa waren die Boys besser in den Spielen, für Manon die Girls. Ebenso uneinig sind sie sich darin, welches Genre sie hier präsentieren: eine Performance? Oder doch ein Konzert? Ein Musical? „What is the biggest obstacle working in a collective?“, fragt Manon an einer Stelle – und Annegret antwortet: „There are so many opinions.

Ebenso wie die individuellen Fähigkeiten in der Arbeitsaufteilung des BAG Kollektivs verwischen, vermischen sich Bühnenperformance, Workshop, Probe – und darin die eigenen mit den Erzählungen der anderen. Sie informieren sich gegenseitig, sodass aus dem gesammelten Material ein vielwurzeliges Wissensgeflecht entsteht, in dem Anfang und Ende keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch die weiterlaufenden Verknüpfungen und wiederkehrenden mäandernden Schleifen, worin sich die Ereignisse zu temporären Wahrheiten organisieren. Ein Ende ist wirklich keine Option.

1 Donna Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Campus, 2018, S.23.
2 Ursula K. Le Guin, The Carrier Bag Theory of Fiction, Ignota Books, 2019.
3 Ursula K. Le Guin, Die Tragetaschentheorie des Erzählens, in: Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Lebens schafft, thinkOya, 2020, S. 12.

Cover: Collage von Gretchen Blegen, Bilder von Tabita Hub

BAG Kollektiv "The End is not an Option" von und mit: Lisa Densem, Roni Katz, Manon Parent, Annegret Schalke, Xenia Taniko, Maya Weinberg
Produktionsleitung: Patricia Oldenhave, Annett Hardegen.

https://jungesfeld.de/the-end-is-not-an-option/
https://viertewelt.de/aktuell/b-a-g-the-end-is-not-an-option/?occurrence=2021-11-21

Jette Büchsenschütz writes and researches mainly about dance and performance – with a strong interest in cultural politics, in particular the intersection of feminist theory and labour. She has a background in Chinese as well as in Dance Studies.