Helga Sophia Goetzes Werk wird oft als Art Brut beschrieben und gelesen. Sich selbst bezeichnete sie als “größte lebende Dichterin” und ihre Gedichte, sowie die “über 30.000 maschinengeschriebenen DIN-A4-Seiten mit tagtäglichen Aufzeichnungen über ihre Erlebnisse, ihre Lektüre, ihre Erkenntnisse, sind ein unschätzbarer Spiegel unserer Zeit.”1 Über sich selbst sagte sie manchmal: “Ich weiß, ich bin zu viel”.
Helga Goetze (1922–2008) lebte in Hamburg mit ihrem Ehemann und ihren sieben Kindern bis zu einer Zäsur im Jahr 1968. Während eines Familienurlaubs verbrachte sie eine Nacht mit einer neuen Bekanntschaft Namens Giovanni. Sie schrieb in einem Heft: “1968 erlebte ich in Sizilien mein ‘out’ mit Genehmigung des verstehenden Gatten”. Diese Erfahrung stellte für sie einen Neuanfang dar und sie brach aus ihrem Leben als Hausfrau aus. Sie lebte in Hamburg in einer WG mit freier Sexualität und Gemeinschaftseigentum und zog 1978 nach Berlin. 1973 veröffentlichte sie das Buch “Hausfrau der Nation oder Deutschlands Supersau?”, in welchem sie durch Gedichte auf ihren Ausbruch zurückkam. Sie erhielt internationale Aufmerksamkeit mit ihren provokanten Schriften und Auftritten. Von 1983 bis kurz vor ihrem Tod am 29. Januar 2008 stand sie jeden Tag vor der Gedächtniskirche in Berlin Charlottenburg. Sie trug dabei einen selbst gestickten Mantel und rief den Passenten zu: “Ficken/lieben” – “Der Orgasmus der Göttin ist Frieden”, “Wer nimmt die Sexualnot der Jünglinge und die der Frauen über 30 wahr?”. 1976 wurde sie “Skandal des Jahres” genannt, als sie Gästin in einer Talkshow war und sich nackt auszog. “Wofür soll ich mich schämen? Mein Körper ist meine Kirche, durch den fühle und atme ich.”2
Es sind vor allem (aber nicht ausschließlich) Institutionen der Art Brut, die ihre Werke gezeigt und ihre Arbeit anerkannt haben. Helga Goetzes erste Solo-Ausstellung, “Was ist eine Frau? – Weg eines Aufbruchs”3, fand 2006 in der Studio-Galerie des Hauses am Lützowplatz in Berlin statt und wurde von der damaligen Leiterin Karin Pott kuratiert. 2007 erhielt die Collection de l’Art Brut in Lausanne fünf ihrer bedeutendsten Stickereien im Rahmen einer Schenkung, die mit Einverständnis der Künstlerin und durch das Engagement von Karin Pott und der Direktorin des Museums Lucienne Peiry erfolgte. 2021 widmete ihr die Berliner Galerie Art Cru eine Solo-Ausstellung4, die ebenfalls von Karin Pott kuratiert wurde. Bis zum 25. September sind Werke von ihr in der von Lucienne Peiry kuratierten Ausstellung “Art Brut Ornaments” im Musée des Beaux-Arts von Le Locle, in der Schweiz, zu sehen5. Um zu verstehen, warum Helga Goetze als Künstlerin der Art Brut wahrgenommen wird, soll dieser Begriff vorerst definiert werden:
Was Helga Goetze in erster Linie auszeichnet, ist die unerschütterliche Beharrlichkeit, mit der sie an dem Umsturz schwerwiegender gesellschaftlicher Tabus arbeitete. Vor allem die Darstellung der Sexualität als Akt der Befreiung und der Ermächtigung – gerade für Frauen – steht im Zentrum ihrer multimedialen Praxis. Ihre Texte und Bilder vermitteln starke Aussagen wie “Ficken ist Frieden”, “Mein Arsch schnurrt” oder “Mütter sind Verliererinnen – integral”7, die durch ihre provokante Art im Gedächtnis bleiben.
Diese Sprüche, die aufwieglerisch wirken mögen, sind dennoch nicht repräsentativ für die gesamte literarische Arbeit Helga Goetzes. Denn die Sprache ist das zentrale Element ihrer Praxis. Sei es in ihren Stickereien, Zeichnungen, Gedichten, oder in ihren aktivistischen Projekten: Helga Goetze legte einen großen Wert auf die Worte. Die Sprache war ihr grundlegendes Material, mit dem sie virtuos spielte. Je nachdem, worauf sie abzielte, jonglierte sie nicht nur mit den Ausdrucksmitteln (Straßenaktion, Stickerei, Literatur, Zeichnung), sondern auch mit den literarischen Stilen. Und nicht selten ließ sie unterschiedliche Sprachregister innerhalb eines Werkes aufeinandertreffen, genauso wie sie Darstellungstypen miteinander verschmelzen ließ, die sie nicht als widersprüchlich auffasste. Somit wurden oft sexuelle und religiöse Darstellungen (meistens christliche oder mythologische Themen) nebeneinander gestellt.
Helga Goetze nähte Elemente zusammen, die die westliche Gesellschaft stur trennen und weit voneinander entfernt wissen will. Sie arbeitete an einer sehr konkreten Annäherung, sogar an einer Versöhnung, die physisch in ihren Stickereien mit dicken Faden zum Ausdruck kam. Eine Versöhnung zwischen Sexualität und Spiritualität, zwischen nackten – weiblichen – Körpern und Freiheitsgefühl (anstatt Schamgefühl), zwischen körperlichen Liebe und Frieden.
Eine Versöhnung, die auf der physischen Ebene stattfinden musste und die der Frieden und einer intelligenten Emanzipation des Menschen diente. Helga Goetze schrieb in einem ihrer zahlreichen Hefte, wo sie ihre strukturierten Gedanken zusammen mit Abbildungen ihrer Stickereien miteinander assoziierte:
“DAS MÜTTERLICHE hat im PATRIARCHAT keine Pflege. (Emanzipation des Weiblichen bedeutet: werden wir ein MANN. Ich will DAS nicht dulden).”
Und ein Paar Seiten später:
“EINE FRAU macht einen MANN erst ZUM MENSCHEN. Wer macht eine FRAU zur FRAU?”.
Letzteren Satz übertrug sie sogar auf eine großformatige Stickerei.
Durch ihre humorvolle, mal provokante, mal zarte Sprache, versuchte Helga Goetze in aller Ehrlichkeit ihre Nächste:n dazu zu ermutigen, eine freie Sexualität zu praktizieren und im Alltag umzusetzen, weil sie aus ihrer Erfahrung den Ausgangspunkt der geistigen Befreiung darstellte. Sie sah darin die Voraussetzung für die Gleichberechtigung von Frauen* und Männern* und für eine bessere Gesellschaft. Diese Ansicht teilte sie mit den meisten Künstler:innen des Wiener Aktionismus8, mit denen Helga Goetze aktiv im Austausch stand.
1975 fuhr Helga Goetze als Gast zum Friedrichshof in Österreich, wo sie in der von Otto Muehl gegründeten Aktionsanalytische Organisation (AAO) eine kurze Zeit lebte. Diese Erfahrung hinterließ starken Eindrucken und war für Helga Goetze besonders inspirierend, weil die AAO ein Gesellschaftsprojekt in sich trug, was sie bereits selber versucht hatte, zu initiieren. Bis 1983 besuchte sie die AAO-Gruppen in Hamburg und in Berlin und bis zu ihrem Tod korrespondierte sie regelmäßig mit Otto Muehl, selbst während dieser im Gefängnis saß.9
1983 gründete Helga Goetze die “Geni(t)ale Universität” in Berlin. Ein Projekt, was von ihren Erlebnissen und künstlerischen Erfahrungen mit den AAO-Künstler:innen sehr geprägt war. Denn im Gegensatz zu den meisten Art Brut-Autoren:innen, die isoliert arbeiten, lebte Helga Goetzes Praxis von ihren zahlreichen und sehr aktiven Vernetzungen mit ihren Zeitgenossen:innen.
In diesem Sinne war sie zwar Autodidaktin, dennoch extrem gebildet und hatte ein hohes Verständnis von allen komplexen Machtverhältnissen, die die patriarchale, kapitalistische Gesellschaft prägen. Und gerade weil sie zu einer solchen Gesellschaft gehörte, in der Klassismus und Sexismus durchgreifen, wurde ihre empirische, nicht-akademische und nicht professionelle Kunst nicht für voll genommen. Heute noch wird ihre Praxis sowohl auf der politischen wie auf der künstlerischen Ebene nicht so wahrgenommen, wie die von diplomierten Künstler:innen.
Man kann sie zwar als Outsiderin bezeichnen, weil ihre Positionen und ihre Offenheit einen Bruch mit dem Mainstream darstellten. Die Kategorisierung als Art Brut kann dennoch insofern problematisch sein, dass sie dazu tendiert, die Schärfe ihrer politischen Botschaft zu verharmlosen oder sogar auszublenden. Es gab zu der Zeit viele feministische Stimmen, die immer lauter wurden und die in Goetzes Positionierungen resonierten. Auch im Kontext der Kunstszene war ihre Praxis nicht viel radikaler als die der anerkannteren Künstler:innen. Denkt man nicht nur an die AAO, sondern auch an den Wiener Aktionismus, an Fluxus, oder noch allgemeiner an das Konzept der Body Art, das bereits in den 1960er-Jahren Bekanntheit erlangte, muss man feststellen, dass Helga Goetzes Kunst nicht provokanter war, als die Marina Abramovićs, Gina Panes oder ORLANs. Bloß hatte sie keinen akademischen Background. Helga Goetze war sich dessen sehr bewusst und arbeitete gerade deswegen aktiv an ihrer Vernetzung, um ihre Botschaft zu verbreiten.
Auch das Argument, dass sie Autodidaktin war und deswegen Art Brut gemacht hätte, kann in Frage gestellt werden. Abgesehen davon, dass ihre Praxis nicht frei von Einflüssen der traditionellen Kunst war, hatte Helga Goetze wie jede “Hausfrau” dieser Zeit die Stickerei gelernt. In diesem Sinne hatte sie keine Technik erfunden wie zahlreiche Art-Brut-Künstler:innen10. Dieses Wissen stammte zwar aus keiner Kunsthochschule, sollte aber nicht aus diesem Grund disqualifiziert werden. Die Kreativität Helga Goetzes bestand darin, dass sie sich gerade dieser feminisierten* Technik bemächtigte, um ganz bewusst das Patriarchat zu parodieren. Entsprechend scheint es schwierig, ihre Kunst aus dem Grund, dass sie Autodidaktin und radikal in ihrer Praxis war, kategorisch als Art Brut einzuordnen, selbst wenn diese Verortung keine strenge Trennung zur konventionellen Kunst erzielt. Es geht eher darum, die Originalität ihrer Praxis ans Licht zu bringen.
Diese Assoziierung von Helga Goetze mit der Art Brut stellt die Frage nach der Grenze zwischen derArt Brutund der zeitgenössischen Kunst, die schon in den 1960er-Jahren anfing, zu verschwimmen. Die Komplexität der Art Brut bestand von Anfang an darin, dass es keine feste Kriterien der Zugehörigkeit geben konnte. Es handelt sich schließlich um keine Kunstbewegung, sondern um eine epochenübergreifende Kategorisierung. Am Ende des 20. Jahrhunderts begannen die meisten traditionellen Kunstinstitutionen allmählich, die Art Brut ernsthaft wahrzunehmen, was sich wiederum auch auf den Kunstmarkt widerspiegelte– wo die Art Brut zwar nicht gleich bewertet wird, wie die “traditionelle” Kunst, aber immerhin überhaupt vertreten wird. Dass der Art Brut mehr Raum und Sichtbarkeit gegeben wurde, zeigte sich zum Beispiel anhand der Documenta 5, wo 1972 zum ersten Mal Art-Brut-Werke ausgestellt wurden11. Immer mehr Museen, private Sammlungen, Kunststiftungen und Messen empfangen und vertreten Art-Brut-Werke in gleicher Weise wie “traditionelle” Kunst. Dadurch werden Brücken gebaut; Es entsteht ein gegenseitiger Einfluss zwischen zeitgenössischer Kunst und Art Brut. Helga Goetzes Kleidungsstücke, die sie selbst gestickt hatte und mit denen sie vor der Gedächtniskirche in Berlin stand, sind gerade Teil der Ausstellung “Art Brut Ornaments” im Musée des Beaux Arts von Le Locle in der Schweiz12. Die Tatsache, dass ihre Arbeit in erster Linie als Art Brut gezeigt wird, ist an sich nicht negativ zu bewerten. Helga Goetze scheint genau diese Interferenz zu verkörpern, die schon in den 1970er-Jahren anfing, sichtbarer zu werden.
“Die Hexe, die sich lächerlich macht, ist ernst zu nehmen.”
Helga Sophia Goetze
1 Karin Pott. Dieses Zitat stammt aus der Pressemitteilung von Helga Goetzes Solo-Ausstellung in der Galerie Art Cru, Berlin, 09.09. – 29.10.2021. https://www.art-cru.de/ausstellungen-2019/ Helga Goetzes literarische Nachlass befindet sich im frauenfeministischen Archiv, FFBIZ, Berlin. 2 Karin Pott, Pressemitteilung von Helga Goetzes Solo-Ausstellung in der Galerie Art Cru, Berlin, 09.09. – 29.10.2021. https://www.art-cru.de/ausstellungen-2019/ . 3 “Was ist eine Frau? – Weg eines Aufbruchs”, HaL (Haus am Lützowplatz), Berlin, 22.06. – 27.08.2006. https://www.hal-berlin.de/ausstellung/was-ist-eine-frau-weg-eines-aufbruchs/ 4 “Helga Goetze”, Galerie Art Cru, Berlin, 09.09. – 29.10.2021. https://www.art-cru.de/ausstellungen-2019/ 5 “Art Brut Ornaments”, MBAL (Musée des beaux-arts du Locle), 21.05. – 25.09.2022. https://www.mbal.ch/expo/parures-dart-brut/?lang=en 6 Diese Definition stammt aus der Collection de l’Art Brut, Lausanne, und wurde von der Autorin dieses Textes frei übersetzt. Die Originalversion befindet sich hier: https://www.artbrut.ch/fr_CH/art-brut/qu-est-ce-que-l-art-brut 7 Helga Sophia Goetze, “Mensch werde wesentlich”, Stickerei, 88 x 86 cm, Collection de l’Art Brut, Lausanne. https://www.artbrut.ch/fr_CH/auteur/goetze-helga 8 Der Wiener Aktionismus war eine Kunstbewegung, die in den 1960er-Jahren die Formate der Performances und Happenings im Rahmen von Gruppenaktionen und alternativen Gesellschaften erkundete. 9 1991 wurde Otto Muehl in Österreich zu sieben Jahren Haft verurteilt, die er bis 1998 verbüßte. Wegen Sittlichkeitsdelikten, Unzucht mit Minderjährigen bis hin zur Vergewaltigung, Verstößen gegen das Suchtgiftgesetz und Zeugenbeeinflussung. Helga Goetzes Positionierung dazu ist der Autorin nicht bekannt. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kritischer-nachruf-auf-den-aktionskuenstler-otto-muehl-a-902152.html 10 Da die meisten Art-Brut-Künstler:innen von der Gesellschaft ausgeschlossen gehalten sind, ist es für sie notwendig, Materialien aus ihrer unmittelbaren Umgebung zu nutzen. Ein gutes Beispiel ist Fernando Nannetti, der neun Jahre lang (von 1959 bis 1961) jeden Tag die Wände der psychiatrischen Anstalt, wo er lebte, mit dem Dorn seines Gürtels einritzte. Sein Werk, ein Buch in der freien Luft, entfaltete sich über 70 Meter. Cf. Lucienne Peiry, Le livre de Pierre, Allia, Paris, 2020. 11 Die Documenta 5 (1972) wurde von Harald Szeemann geleitet. Unter Anderem wurden die Werke vom Art Brut-Autor Adolf Wölfli gezeigt.12 “Art Brut Ornaments”, MBAL (Musée des beaux-arts du Locle), 21.05. – 25.09.2022. https://www.mbal.ch/expo/parures-dart-brut/?lang=en
Helga Sophia Goetzes Werk wird oft als Art Brut beschrieben und gelesen. Sich selbst bezeichnete sie als “größte lebende Dichterin” und ihre Gedichte, sowie die “über 30.000 maschinengeschriebenen DIN-A4-Seiten mit tagtäglichen Aufzeichnungen über ihre Erlebnisse, ihre Lektüre, ihre Erkenntnisse, sind ein unschätzbarer Spiegel unserer Zeit.”1 Über sich selbst sagte sie manchmal: “Ich weiß, ich bin zu viel”.
Helga Goetze (1922–2008) lebte in Hamburg mit ihrem Ehemann und ihren sieben Kindern bis zu einer Zäsur im Jahr 1968. Während eines Familienurlaubs verbrachte sie eine Nacht mit einer neuen Bekanntschaft Namens Giovanni. Sie schrieb in einem Heft: “1968 erlebte ich in Sizilien mein ‘out’ mit Genehmigung des verstehenden Gatten”. Diese Erfahrung stellte für sie einen Neuanfang dar und sie brach aus ihrem Leben als Hausfrau aus. Sie lebte in Hamburg in einer WG mit freier Sexualität und Gemeinschaftseigentum und zog 1978 nach Berlin. 1973 veröffentlichte sie das Buch “Hausfrau der Nation oder Deutschlands Supersau?”, in welchem sie durch Gedichte auf ihren Ausbruch zurückkam. Sie erhielt internationale Aufmerksamkeit mit ihren provokanten Schriften und Auftritten. Von 1983 bis kurz vor ihrem Tod am 29. Januar 2008 stand sie jeden Tag vor der Gedächtniskirche in Berlin Charlottenburg. Sie trug dabei einen selbst gestickten Mantel und rief den Passenten zu: “Ficken/lieben” – “Der Orgasmus der Göttin ist Frieden”, “Wer nimmt die Sexualnot der Jünglinge und die der Frauen über 30 wahr?”. 1976 wurde sie “Skandal des Jahres” genannt, als sie Gästin in einer Talkshow war und sich nackt auszog. “Wofür soll ich mich schämen? Mein Körper ist meine Kirche, durch den fühle und atme ich.”2
Es sind vor allem (aber nicht ausschließlich) Institutionen der Art Brut, die ihre Werke gezeigt und ihre Arbeit anerkannt haben. Helga Goetzes erste Solo-Ausstellung, “Was ist eine Frau? – Weg eines Aufbruchs”3, fand 2006 in der Studio-Galerie des Hauses am Lützowplatz in Berlin statt und wurde von der damaligen Leiterin Karin Pott kuratiert. 2007 erhielt die Collection de l’Art Brut in Lausanne fünf ihrer bedeutendsten Stickereien im Rahmen einer Schenkung, die mit Einverständnis der Künstlerin und durch das Engagement von Karin Pott und der Direktorin des Museums Lucienne Peiry erfolgte. 2021 widmete ihr die Berliner Galerie Art Cru eine Solo-Ausstellung4, die ebenfalls von Karin Pott kuratiert wurde. Bis zum 25. September sind Werke von ihr in der von Lucienne Peiry kuratierten Ausstellung “Art Brut Ornaments” im Musée des Beaux-Arts von Le Locle, in der Schweiz, zu sehen5. Um zu verstehen, warum Helga Goetze als Künstlerin der Art Brut wahrgenommen wird, soll dieser Begriff vorerst definiert werden:
Was Helga Goetze in erster Linie auszeichnet, ist die unerschütterliche Beharrlichkeit, mit der sie an dem Umsturz schwerwiegender gesellschaftlicher Tabus arbeitete. Vor allem die Darstellung der Sexualität als Akt der Befreiung und der Ermächtigung – gerade für Frauen – steht im Zentrum ihrer multimedialen Praxis. Ihre Texte und Bilder vermitteln starke Aussagen wie “Ficken ist Frieden”, “Mein Arsch schnurrt” oder “Mütter sind Verliererinnen – integral”7, die durch ihre provokante Art im Gedächtnis bleiben.
Diese Sprüche, die aufwieglerisch wirken mögen, sind dennoch nicht repräsentativ für die gesamte literarische Arbeit Helga Goetzes. Denn die Sprache ist das zentrale Element ihrer Praxis. Sei es in ihren Stickereien, Zeichnungen, Gedichten, oder in ihren aktivistischen Projekten: Helga Goetze legte einen großen Wert auf die Worte. Die Sprache war ihr grundlegendes Material, mit dem sie virtuos spielte. Je nachdem, worauf sie abzielte, jonglierte sie nicht nur mit den Ausdrucksmitteln (Straßenaktion, Stickerei, Literatur, Zeichnung), sondern auch mit den literarischen Stilen. Und nicht selten ließ sie unterschiedliche Sprachregister innerhalb eines Werkes aufeinandertreffen, genauso wie sie Darstellungstypen miteinander verschmelzen ließ, die sie nicht als widersprüchlich auffasste. Somit wurden oft sexuelle und religiöse Darstellungen (meistens christliche oder mythologische Themen) nebeneinander gestellt.
Helga Goetze nähte Elemente zusammen, die die westliche Gesellschaft stur trennen und weit voneinander entfernt wissen will. Sie arbeitete an einer sehr konkreten Annäherung, sogar an einer Versöhnung, die physisch in ihren Stickereien mit dicken Faden zum Ausdruck kam. Eine Versöhnung zwischen Sexualität und Spiritualität, zwischen nackten – weiblichen – Körpern und Freiheitsgefühl (anstatt Schamgefühl), zwischen körperlichen Liebe und Frieden.
Eine Versöhnung, die auf der physischen Ebene stattfinden musste und die der Frieden und einer intelligenten Emanzipation des Menschen diente. Helga Goetze schrieb in einem ihrer zahlreichen Hefte, wo sie ihre strukturierten Gedanken zusammen mit Abbildungen ihrer Stickereien miteinander assoziierte:
“DAS MÜTTERLICHE hat im PATRIARCHAT keine Pflege. (Emanzipation des Weiblichen bedeutet: werden wir ein MANN. Ich will DAS nicht dulden).”
Und ein Paar Seiten später:
“EINE FRAU macht einen MANN erst ZUM MENSCHEN. Wer macht eine FRAU zur FRAU?”.
Letzteren Satz übertrug sie sogar auf eine großformatige Stickerei.
Durch ihre humorvolle, mal provokante, mal zarte Sprache, versuchte Helga Goetze in aller Ehrlichkeit ihre Nächste:n dazu zu ermutigen, eine freie Sexualität zu praktizieren und im Alltag umzusetzen, weil sie aus ihrer Erfahrung den Ausgangspunkt der geistigen Befreiung darstellte. Sie sah darin die Voraussetzung für die Gleichberechtigung von Frauen* und Männern* und für eine bessere Gesellschaft. Diese Ansicht teilte sie mit den meisten Künstler:innen des Wiener Aktionismus8, mit denen Helga Goetze aktiv im Austausch stand.
1975 fuhr Helga Goetze als Gast zum Friedrichshof in Österreich, wo sie in der von Otto Muehl gegründeten Aktionsanalytische Organisation (AAO) eine kurze Zeit lebte. Diese Erfahrung hinterließ starken Eindrucken und war für Helga Goetze besonders inspirierend, weil die AAO ein Gesellschaftsprojekt in sich trug, was sie bereits selber versucht hatte, zu initiieren. Bis 1983 besuchte sie die AAO-Gruppen in Hamburg und in Berlin und bis zu ihrem Tod korrespondierte sie regelmäßig mit Otto Muehl, selbst während dieser im Gefängnis saß.9
1983 gründete Helga Goetze die “Geni(t)ale Universität” in Berlin. Ein Projekt, was von ihren Erlebnissen und künstlerischen Erfahrungen mit den AAO-Künstler:innen sehr geprägt war. Denn im Gegensatz zu den meisten Art Brut-Autoren:innen, die isoliert arbeiten, lebte Helga Goetzes Praxis von ihren zahlreichen und sehr aktiven Vernetzungen mit ihren Zeitgenossen:innen.
In diesem Sinne war sie zwar Autodidaktin, dennoch extrem gebildet und hatte ein hohes Verständnis von allen komplexen Machtverhältnissen, die die patriarchale, kapitalistische Gesellschaft prägen. Und gerade weil sie zu einer solchen Gesellschaft gehörte, in der Klassismus und Sexismus durchgreifen, wurde ihre empirische, nicht-akademische und nicht professionelle Kunst nicht für voll genommen. Heute noch wird ihre Praxis sowohl auf der politischen wie auf der künstlerischen Ebene nicht so wahrgenommen, wie die von diplomierten Künstler:innen.
Man kann sie zwar als Outsiderin bezeichnen, weil ihre Positionen und ihre Offenheit einen Bruch mit dem Mainstream darstellten. Die Kategorisierung als Art Brut kann dennoch insofern problematisch sein, dass sie dazu tendiert, die Schärfe ihrer politischen Botschaft zu verharmlosen oder sogar auszublenden. Es gab zu der Zeit viele feministische Stimmen, die immer lauter wurden und die in Goetzes Positionierungen resonierten. Auch im Kontext der Kunstszene war ihre Praxis nicht viel radikaler als die der anerkannteren Künstler:innen. Denkt man nicht nur an die AAO, sondern auch an den Wiener Aktionismus, an Fluxus, oder noch allgemeiner an das Konzept der Body Art, das bereits in den 1960er-Jahren Bekanntheit erlangte, muss man feststellen, dass Helga Goetzes Kunst nicht provokanter war, als die Marina Abramovićs, Gina Panes oder ORLANs. Bloß hatte sie keinen akademischen Background. Helga Goetze war sich dessen sehr bewusst und arbeitete gerade deswegen aktiv an ihrer Vernetzung, um ihre Botschaft zu verbreiten.
Auch das Argument, dass sie Autodidaktin war und deswegen Art Brut gemacht hätte, kann in Frage gestellt werden. Abgesehen davon, dass ihre Praxis nicht frei von Einflüssen der traditionellen Kunst war, hatte Helga Goetze wie jede “Hausfrau” dieser Zeit die Stickerei gelernt. In diesem Sinne hatte sie keine Technik erfunden wie zahlreiche Art-Brut-Künstler:innen10. Dieses Wissen stammte zwar aus keiner Kunsthochschule, sollte aber nicht aus diesem Grund disqualifiziert werden. Die Kreativität Helga Goetzes bestand darin, dass sie sich gerade dieser feminisierten* Technik bemächtigte, um ganz bewusst das Patriarchat zu parodieren. Entsprechend scheint es schwierig, ihre Kunst aus dem Grund, dass sie Autodidaktin und radikal in ihrer Praxis war, kategorisch als Art Brut einzuordnen, selbst wenn diese Verortung keine strenge Trennung zur konventionellen Kunst erzielt. Es geht eher darum, die Originalität ihrer Praxis ans Licht zu bringen.
Diese Assoziierung von Helga Goetze mit der Art Brut stellt die Frage nach der Grenze zwischen der Art Brut und der zeitgenössischen Kunst, die schon in den 1960er-Jahren anfing, zu verschwimmen. Die Komplexität der Art Brut bestand von Anfang an darin, dass es keine feste Kriterien der Zugehörigkeit geben konnte. Es handelt sich schließlich um keine Kunstbewegung, sondern um eine epochenübergreifende Kategorisierung. Am Ende des 20. Jahrhunderts begannen die meisten traditionellen Kunstinstitutionen allmählich, die Art Brut ernsthaft wahrzunehmen, was sich wiederum auch auf den Kunstmarkt widerspiegelte– wo die Art Brut zwar nicht gleich bewertet wird, wie die “traditionelle” Kunst, aber immerhin überhaupt vertreten wird. Dass der Art Brut mehr Raum und Sichtbarkeit gegeben wurde, zeigte sich zum Beispiel anhand der Documenta 5, wo 1972 zum ersten Mal Art-Brut-Werke ausgestellt wurden11. Immer mehr Museen, private Sammlungen, Kunststiftungen und Messen empfangen und vertreten Art-Brut-Werke in gleicher Weise wie “traditionelle” Kunst. Dadurch werden Brücken gebaut; Es entsteht ein gegenseitiger Einfluss zwischen zeitgenössischer Kunst und Art Brut. Helga Goetzes Kleidungsstücke, die sie selbst gestickt hatte und mit denen sie vor der Gedächtniskirche in Berlin stand, sind gerade Teil der Ausstellung “Art Brut Ornaments” im Musée des Beaux Arts von Le Locle in der Schweiz12. Die Tatsache, dass ihre Arbeit in erster Linie als Art Brut gezeigt wird, ist an sich nicht negativ zu bewerten. Helga Goetze scheint genau diese Interferenz zu verkörpern, die schon in den 1970er-Jahren anfing, sichtbarer zu werden.
1 Karin Pott. Dieses Zitat stammt aus der Pressemitteilung von Helga Goetzes Solo-Ausstellung in der Galerie Art Cru, Berlin, 09.09. – 29.10.2021. https://www.art-cru.de/ausstellungen-2019/ Helga Goetzes literarische Nachlass befindet sich im frauenfeministischen Archiv, FFBIZ, Berlin.
2 Karin Pott, Pressemitteilung von Helga Goetzes Solo-Ausstellung in der Galerie Art Cru, Berlin, 09.09. – 29.10.2021. https://www.art-cru.de/ausstellungen-2019/ .
3 “Was ist eine Frau? – Weg eines Aufbruchs”, HaL (Haus am Lützowplatz), Berlin, 22.06. – 27.08.2006. https://www.hal-berlin.de/ausstellung/was-ist-eine-frau-weg-eines-aufbruchs/
4 “Helga Goetze”, Galerie Art Cru, Berlin, 09.09. – 29.10.2021. https://www.art-cru.de/ausstellungen-2019/
5 “Art Brut Ornaments”, MBAL (Musée des beaux-arts du Locle), 21.05. – 25.09.2022. https://www.mbal.ch/expo/parures-dart-brut/?lang=en
6 Diese Definition stammt aus der Collection de l’Art Brut, Lausanne, und wurde von der Autorin dieses Textes frei übersetzt. Die Originalversion befindet sich hier: https://www.artbrut.ch/fr_CH/art-brut/qu-est-ce-que-l-art-brut
7 Helga Sophia Goetze, “Mensch werde wesentlich”, Stickerei, 88 x 86 cm, Collection de l’Art Brut, Lausanne. https://www.artbrut.ch/fr_CH/auteur/goetze-helga
8 Der Wiener Aktionismus war eine Kunstbewegung, die in den 1960er-Jahren die Formate der Performances und Happenings im Rahmen von Gruppenaktionen und alternativen Gesellschaften erkundete.
9 1991 wurde Otto Muehl in Österreich zu sieben Jahren Haft verurteilt, die er bis 1998 verbüßte. Wegen Sittlichkeitsdelikten, Unzucht mit Minderjährigen bis hin zur Vergewaltigung, Verstößen gegen das Suchtgiftgesetz und Zeugenbeeinflussung. Helga Goetzes Positionierung dazu ist der Autorin nicht bekannt. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kritischer-nachruf-auf-den-aktionskuenstler-otto-muehl-a-902152.html
10 Da die meisten Art-Brut-Künstler:innen von der Gesellschaft ausgeschlossen gehalten sind, ist es für sie notwendig, Materialien aus ihrer unmittelbaren Umgebung zu nutzen. Ein gutes Beispiel ist Fernando Nannetti, der neun Jahre lang (von 1959 bis 1961) jeden Tag die Wände der psychiatrischen Anstalt, wo er lebte, mit dem Dorn seines Gürtels einritzte. Sein Werk, ein Buch in der freien Luft, entfaltete sich über 70 Meter. Cf. Lucienne Peiry, Le livre de Pierre, Allia, Paris, 2020.
11 Die Documenta 5 (1972) wurde von Harald Szeemann geleitet. Unter Anderem wurden die Werke vom Art Brut-Autor Adolf Wölfli gezeigt.12 “Art Brut Ornaments”, MBAL (Musée des beaux-arts du Locle), 21.05. – 25.09.2022. https://www.mbal.ch/expo/parures-dart-brut/?lang=en