Vor einem Jahr, zum Gallery Weekend 2019 in Berlin, widmete die Galerie Art Cru in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Thurgau dem schweizerischen Künstler Hans Krüsi (1920 Zürich – 1995 St. Gallen) eine erste Solo-Ausstellung in Berlin. Obwohl der Künstler mir nicht unbekannt war, hatte ich seine Arbeiten bisher noch nie in Natura gesehen. Zeichnung, Malerei, Schablone, Plastik… ein Rundgang durch die kleine, unterirdische Galerie reichte, um zu erahnen, wie umfangreich und vielfältig sein künstlerisches Werk ist. Was nicht ausgestellt wurde und auch weniger bekannt ist, sind die Tonaufnahmen, die er ab den 1960er Jahren produzierte1 und auf die ich mich konzentrieren möchte. Diese eigenartigen Werke wurden postum teilweise auf CDs und Vinyls übertragen, ein längerer Ausschnitt kann sogar online gehört werden. Ernst Thoma, der diese Tondokumente studiert und ein Hörbuch daraus produziert hat, konnte Krüsis Vorgehensweise rekonstruieren. Der Künstler spielte in seinem Atelier Aufnahmen von diversen Tönen ab (Maschinen- oder Tiergeräusche, Radiosendungen, Lieder, Kirchenglocken, Insektensummen, Schlaginstrumente, usw.). Manchmal liefen mehrere Kassetten gleichzeitig. Diese Tonlandschaft nahm er mit einem Mikrofon wieder auf und vermischte auf dem Band so zahlreiche Tonschichten.2 Diese Tonaufnahmen können als „Collagen“ bezeichnet werden, ein Begriff, den die Autorin Antje Vowinckel wie folgt definiert3:
„Mit dem Begriff „Collage“ werden […] Werke aus allen Kunstbereichen bezeichnet, die durch Zusammenfügung von präfabriziertem, heterogenem Material unterschiedlichster Herkunft (zum Beispiel Dokumente, Zitate, Redensarte, aber auch Gegenstände, Geräusche, Musik oder Gebrauchstexte) so hergestellt werden, dass deren sekundäre Verwendung für den Rezipienten erkennbar bleibt. Vorausgesetzt wird dabei ein künstlerischer Anspruch, Sprünge und Brüche nicht zu verdecken oder zu stilisieren, sondern die Bedeutung der Einzelelemente in ein neues Licht zu rücken, sie auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin zu befragen. Die Einzelelemente lassen sich nicht organisch einem vorgegebenen Thema unterordnen. Sie sperren sich einer vollständigen Integration und treten in ein Spannungsverhältnis von alter und neuer Funktion etwa zwischen ehemaligen Gebrauchswert und einem durch die Anordnung hervorgehobenen materialen Reiz.“
Diese lange, aber präzise Definition trifft auf Krüsis Tonaufnahmen zu. Der Begriff ist aber auch für andere seiner Arbeiten relevant. Nicht nur in Plastiken, sondern auch in seinen Malereien mit Schablonen entwickelte er grafische Kompositionen, die aus mehreren Schichten bestanden. Hier kann man genau genommen nicht von Collagen sprechen, jedoch sind die Konzeption, die Denkweise und das Arbeitsverfahren sehr ähnlich.
Außerdem haben Krüsis Tonaufnahmen unleugbare Ähnlichkeiten mit vielen Werken seiner Zeit. Die Collage selbst wurde von den Kubisten bereits Anfang der 1910er Jahren in die Kunst eingeführt4 und war sowohl eine neue Technik als auch eine neue Ästhetik, die die Codes einer bürgerlichen, etablierten Kunst umstoßen sollte. Schon damals wird das Konzept der Collage auch im Bereich der Musik erkundet: Am 9. März 1913 veröffentlichte der italienische Futurist Luigi Russolo sein Manifest „L’Arte dei rumori“. Die Geräuschkunst. Er wünschte sich unter anderem eine Musik, die zur „Emanzipation des Geräuschs“ beitragen würde5. Dabei schuf er die Grundlage einer langen Tradition: Die der sogenannten Noise Music. Sein Konzept illustrierte Russolo mit dem von ihm komponierten Stück Serenata per Intonarumori e strumenti. Die Intonarumori, „Geräuscherzeuger“, sind Instrumente, die Russolo selbst erfunden und produziert hat, um bestimmte Geräusche in seinen Stücken zu integrieren, die den ästhetischen Normen der Musik nicht entsprachen. In diesem Bereich wurden nun zahlreiche Experimente durchgeführt, wie zum Beispiel die von Pierre Schaeffer. Dieser Komponist der „musique concrète“ gilt als einer der Ersten, der in den 1940er Jahren den Begriff von „Collage“ musikalisch realisiert hat. Seine konkrete Herangehensweise hat ihn dazu gebracht, die Musik physisch zu bearbeiten, indem er Magnetbänder mit Aufnahmen von Alltagsgeräuschen manipulierte.6 Er selbst verwendete den Begriff “Collage”, um seine Arbeitsweise zu bezeichnen7. Im Gegensatz zu dem, was sich in Deutschland gleichzeitig mit der Geburt der elektronischen Musik entwickelte, wollten Pierre Schaeffer und die Vertreter*innen der musique concrète echte vorhandene Geräusche benutzen und die Spuren der Handarbeit erahnbar lassen. Ein synthetischer, elektronischer Ton, der keinem wirklichen Körper entspricht und in dem Sinne entmaterialisiert ist, war für sie nicht von Interesse. Diese Beziehung zu den Geräuschen, die dabei als hörbare Spuren von Gegenständen aufgefasst werden, ist besonders relevant, um die Arbeiten von Hans Krüsi zu verstehen. Krüsi, genau wie Schaeffer, schien eine sehr pure Beziehung zu den Geräuschen bewahren zu wollen. Noch näher an der Ästhetik von Krüsis Collagen scheint mir die Musik von John Cage zu liegen, obgleich Cage sein Material extrem retuschierte und verfremdete. So ähnelt etwa das Stück „Williams Mix“ (1952) Krüsis Tonaufnahmen sehr, die knapp 10 Jahren später entstanden. Die Nähe liegt unter Anderem daran, dass Cages Arrangements weniger streng nach Geräusch-Kategorien sortiert sind als die von Schaeffer. In John Cages und in Hans Krüsis Werken begegnen sich Töne diverser Herkunft. Frösche, Schweine, Insekten und Züge begegnen Sänger*innen, menschlichem Lachen, Radiosendungen und allen möglichen Arten von unerkennbarem Quietschen. Sie begegnen sich, weil sie alle auf die gleiche Ebene gestellt werden. Die Hierarchie der Geräusche ist hier definitiv abgeschafft.
Hans Krüsis Werke gehören zweifellos zu der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, denn Krüsi erkundete als Künstler die Technologie seiner Zeit. Nichtsdestotrotz muss dieser Gedanke gleich nuanciert werden, denn es ist sehr schwierig zu schätzen, inwiefern Krüsi von der Arbeit seiner Zeitgenossen*innen beeinflusst worden ist und wie stark dieser internationale Kontext seine eigene Praxis geprägt hat. Offiziell hat er seine Absichten nie klar ausgesprochen oder sich selbst als Musiker oder Komponisten bezeichnet. In diesem Sinne wäre es problematisch, seine Arbeit so zu interpretieren, als hätte er die akademischen Normen der Musik neu definieren wollen, was zum Beispiel die Absicht von Pierre Schaeffer war, oder von Pablo Picasso und Georges Braque, wenn man nicht nur von Musik, sondern auch von visuellen Künsten spricht. Die Geschichte der Collage im 20. Jahrhundert ist die einer subversiven und umstürzlerischen Kunst. Deswegen kann der Outsider Artist Krüsi nicht ganz in die Kontinuität dieser Moderne gestellt werden. Es wäre natürlich irrelevant, ihm künstlich und nachträglich Absichten und theoretische Gedanken zu unterstellen, mit denen er sich nie identifiziert hat. Außerdem verfolgen Krüsis Aufnahmen mutmaßlich Zwecke ganz anderer Art, die sich schlecht mit revolutionären Absichten gegen akademische Kunstnormen vereinbaren lassen.
Wie bereits erwähnt, kann man davon ausgehen, dass Krüsis Tonaufnahmen ständig abgespielt wurden, wenn er im Atelier war. In diesem Sinne bildeten sie eine Art Hintergrundgeräusch, in dem er sich bewegt hat und das er immer wieder aufnahm. Seine Collagen erfüllten seinen Arbeits- und Lebensraum, sie kleideten und schmückten ihn wie Tapeten die Wände. 1956, etwa vier Jahren vor Krüsis ersten Tonaufnahmen, schuf der US-amerikanische Künstler Richard Hamilton das berühmte Werk „Just What Is It That Makes Today’s Home So Different and So Appealing?“. In dieser Arbeit wird das Interieur einer Wohnung der 1950er Jahren mit Ironie dargestellt. Gezeigt wird auch wie die damals noch junge Konsumgesellschaft den Bezug zu dem eigenen Lebensraum stark verändert hat. Anhand unendlich vieler verschiedener standardisierter Produkte, die jedem*r zu zugänglichen Preisen zur Verfügung standen, wurden zum ersten Mal in der Geschichte Wohnungen so eingerichtet, dass jedes Interieur die Identität seiner Eigentümer*innen spiegeln sollte. Dabei waren paradoxerweise die ästhetischen und praktischen Qualitäten der Objekte extrem normiert und standardisiert. In seinem Werk stellte Hamilton die moderne Wohnung folglich als eine bunte Zusammenstellung (eine Collage) von diversen Gegenständen dar, wofür die Technik der Collage nicht nur geeignet war, sondern auch ironisch genutzt wurde.
Während Hamilton auf die Collage zurückgriff, um die Natur und die Ästhetik der modernen Lebensräume zu hinterfragen, baute Hans Krüsi mit Tonaufnahmen seine eigenen immateriellen Lebensräume auf. Krüsi bewegte sich in einem hörbaren, zusammengestoppelten Interieur, das seine malerische Arbeit und alltägliche Tätigkeiten begleitete. Er schuf für sich selbst eine sonore Umgebung, in der er lebte und die er ständig durch neue Aufnahmen erweiterte. Wie der Soundtrack eines Films, haben seine Aufnahmen eine erzählende Kraft und deuten zahlreiche Bilder an, die unsichtbar in der Luft schweben. Krüsis Tonbänder und Malereien haben viele Gemeinsamkeiten. Die Tiere, die er so oft aufgenommen hat, finden sich auch überwiegend in seinem visuellen Repertoire. Hat Krüsi das gemalt, was er sich angehört hat? So einfach lässt sich seine Arbeit nicht zusammenfassen, aber er beschäftigte sich definitiv mit seiner unmittelbaren Umgebung sowohl in seiner Malerei als auch in seinen Tonaufnahmen. Er schuf sich einen neuen Lebensraum, er verdoppelte und belebte sein Atelier anhand von dem, was er kannte, was er sich angeeignet und selbst reproduziert hatte. Als hätte er sich von Tönen und Bildern umhüllen wollen, die vielleicht für eine schützende, beruhigende oder inspirierende Atmosphäre sorgen sollten. Auch Krüsi ist in seinen Aufnahmen erlebbar. Man hört – er hörte – seine Stimme, und wie sie zu sich selbst spricht. Ab und an macht er auch Musik: Flöte und Schlaginstrumente. Manchmal spielt er sogar, während ein anderes Lied im Hintergrund zu hören ist. Hat er versucht, sich in eine Welt einzugliedern, die ihm entkommen ist? Oder versuchte er eher, seine Individualität zu festigen? Die Autorin und Outsider-Art Spezialistin Maria A. Azzola spricht von „Kosmogonie“, wenn der künstlerische Ausdruck eines*r Autors*in zu der Schaffung einer neuen und eigenen Welt führt. Dabei bringen sie ein eigenartiges Korpus von Werken hervor, das einen universellen Wert hat.8 Man kann Krüsis Werk ins Licht dieser Definition stellen. Einige Fotos von seinem Schlafzimmer zeigen, wie dicht seine eigene Bilder überall um ihn herum hingen, lagen und standen. Er selbst schien kaum noch Platz zu haben. Dazu muss man sich vorstellen, wie laute Tonaufnahmen seinen Lebensraum im Hintergrund belebt haben. Er hat sich eine komplett neue Umgebung geschaffen, die ihn sowohl visuell wie auch akustisch von der echten Welt trennte. Dieses Isoliermaterial bestand aber für seine Tonaufnahmen wie für seine Malereien aus Elementen, die sich Krüsi in der Außenwelt ausgesucht, manipuliert, und so angeeignet hat. Mehr als eine Trennung, handelt es sich also vielleicht um eine tiefe, obgleich vermittelte Verbindung zur Welt.
Hans Krüsi, Kunstmuseum Thurgau
Cover: Hans Ruedi Fricker, Hans Krüsi mit Bild „Mann mit Vogel in der Hand“, undatiert, Polaroid, Kunstmuseum Thurgau
Ich möchte mich bei Lucienne Peiry und Markus Landert sehr herzlich bedanken, weil ich ohne sie die Werke von Hans Krüsi nie entdeckt hätte.
1 Landert, Markus, und Dorothee Messmer. Hans Krüsi. Auch ein Nichts kann etwas werden. Sulgen: Niggli, 2001. 2 Leider fehlt mir in der Vorbereitung dieses Texts den Zugang zu manchen Quellen (Texten und Filme über Hans Krüsi), die vielleicht eine bessere Beschreibung seines Arbeitsverfahrens ermöglicht hätten. 3 Vowinckel, Antje. Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Königshausen & Neumann, 1995. 4 „Picasso verwendet 1912 als erster ein Stück Wachstuch in einem seiner Stillleben, um damit ein Stuhlgeflecht darzustellen. Das Realitätsfragment ersetzt somit die Abbildung desselben.“ Vowinckel, Antje. Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Königshausen & Neumann, 1995. 5 Vowinckel, Antje. Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Königshausen & Neumann, 1995. 6 cf. zum Beispiel „Étude aux chemins de fer“, 1948: https://www.youtube.com/watch?v=N9pOq8u6-bA 7 Interview von Pierre Schaeffer, ORTF, „Lectures pour tous“, 17.6.1959: https://www.youtube.com/watch?v=LfS1KboThPA 8 Azzola, Maria A. „Les langages de l’art brut“, L’art brut. Citadelles & Mazenod, 2018, S. 370
Vor einem Jahr, zum Gallery Weekend 2019 in Berlin, widmete die Galerie Art Cru in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Thurgau dem schweizerischen Künstler Hans Krüsi (1920 Zürich – 1995 St. Gallen) eine erste Solo-Ausstellung in Berlin. Obwohl der Künstler mir nicht unbekannt war, hatte ich seine Arbeiten bisher noch nie in Natura gesehen. Zeichnung, Malerei, Schablone, Plastik… ein Rundgang durch die kleine, unterirdische Galerie reichte, um zu erahnen, wie umfangreich und vielfältig sein künstlerisches Werk ist. Was nicht ausgestellt wurde und auch weniger bekannt ist, sind die Tonaufnahmen, die er ab den 1960er Jahren produzierte1 und auf die ich mich konzentrieren möchte. Diese eigenartigen Werke wurden postum teilweise auf CDs und Vinyls übertragen, ein längerer Ausschnitt kann sogar online gehört werden. Ernst Thoma, der diese Tondokumente studiert und ein Hörbuch daraus produziert hat, konnte Krüsis Vorgehensweise rekonstruieren. Der Künstler spielte in seinem Atelier Aufnahmen von diversen Tönen ab (Maschinen- oder Tiergeräusche, Radiosendungen, Lieder, Kirchenglocken, Insektensummen, Schlaginstrumente, usw.). Manchmal liefen mehrere Kassetten gleichzeitig. Diese Tonlandschaft nahm er mit einem Mikrofon wieder auf und vermischte auf dem Band so zahlreiche Tonschichten.2 Diese Tonaufnahmen können als „Collagen“ bezeichnet werden, ein Begriff, den die Autorin Antje Vowinckel wie folgt definiert3:
„Mit dem Begriff „Collage“ werden […] Werke aus allen Kunstbereichen bezeichnet, die durch Zusammenfügung von präfabriziertem, heterogenem Material unterschiedlichster Herkunft (zum Beispiel Dokumente, Zitate, Redensarte, aber auch Gegenstände, Geräusche, Musik oder Gebrauchstexte) so hergestellt werden, dass deren sekundäre Verwendung für den Rezipienten erkennbar bleibt. Vorausgesetzt wird dabei ein künstlerischer Anspruch, Sprünge und Brüche nicht zu verdecken oder zu stilisieren, sondern die Bedeutung der Einzelelemente in ein neues Licht zu rücken, sie auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin zu befragen. Die Einzelelemente lassen sich nicht organisch einem vorgegebenen Thema unterordnen. Sie sperren sich einer vollständigen Integration und treten in ein Spannungsverhältnis von alter und neuer Funktion etwa zwischen ehemaligen Gebrauchswert und einem durch die Anordnung hervorgehobenen materialen Reiz.“
Diese lange, aber präzise Definition trifft auf Krüsis Tonaufnahmen zu. Der Begriff ist aber auch für andere seiner Arbeiten relevant. Nicht nur in Plastiken, sondern auch in seinen Malereien mit Schablonen entwickelte er grafische Kompositionen, die aus mehreren Schichten bestanden. Hier kann man genau genommen nicht von Collagen sprechen, jedoch sind die Konzeption, die Denkweise und das Arbeitsverfahren sehr ähnlich.
Außerdem haben Krüsis Tonaufnahmen unleugbare Ähnlichkeiten mit vielen Werken seiner Zeit. Die Collage selbst wurde von den Kubisten bereits Anfang der 1910er Jahren in die Kunst eingeführt4 und war sowohl eine neue Technik als auch eine neue Ästhetik, die die Codes einer bürgerlichen, etablierten Kunst umstoßen sollte. Schon damals wird das Konzept der Collage auch im Bereich der Musik erkundet: Am 9. März 1913 veröffentlichte der italienische Futurist Luigi Russolo sein Manifest „L’Arte dei rumori“. Die Geräuschkunst. Er wünschte sich unter anderem eine Musik, die zur „Emanzipation des Geräuschs“ beitragen würde5. Dabei schuf er die Grundlage einer langen Tradition: Die der sogenannten Noise Music. Sein Konzept illustrierte Russolo mit dem von ihm komponierten Stück Serenata per Intonarumori e strumenti. Die Intonarumori, „Geräuscherzeuger“, sind Instrumente, die Russolo selbst erfunden und produziert hat, um bestimmte Geräusche in seinen Stücken zu integrieren, die den ästhetischen Normen der Musik nicht entsprachen. In diesem Bereich wurden nun zahlreiche Experimente durchgeführt, wie zum Beispiel die von Pierre Schaeffer. Dieser Komponist der „musique concrète“ gilt als einer der Ersten, der in den 1940er Jahren den Begriff von „Collage“ musikalisch realisiert hat. Seine konkrete Herangehensweise hat ihn dazu gebracht, die Musik physisch zu bearbeiten, indem er Magnetbänder mit Aufnahmen von Alltagsgeräuschen manipulierte.6 Er selbst verwendete den Begriff “Collage”, um seine Arbeitsweise zu bezeichnen7. Im Gegensatz zu dem, was sich in Deutschland gleichzeitig mit der Geburt der elektronischen Musik entwickelte, wollten Pierre Schaeffer und die Vertreter*innen der musique concrète echte vorhandene Geräusche benutzen und die Spuren der Handarbeit erahnbar lassen. Ein synthetischer, elektronischer Ton, der keinem wirklichen Körper entspricht und in dem Sinne entmaterialisiert ist, war für sie nicht von Interesse. Diese Beziehung zu den Geräuschen, die dabei als hörbare Spuren von Gegenständen aufgefasst werden, ist besonders relevant, um die Arbeiten von Hans Krüsi zu verstehen. Krüsi, genau wie Schaeffer, schien eine sehr pure Beziehung zu den Geräuschen bewahren zu wollen. Noch näher an der Ästhetik von Krüsis Collagen scheint mir die Musik von John Cage zu liegen, obgleich Cage sein Material extrem retuschierte und verfremdete. So ähnelt etwa das Stück „Williams Mix“ (1952) Krüsis Tonaufnahmen sehr, die knapp 10 Jahren später entstanden. Die Nähe liegt unter Anderem daran, dass Cages Arrangements weniger streng nach Geräusch-Kategorien sortiert sind als die von Schaeffer. In John Cages und in Hans Krüsis Werken begegnen sich Töne diverser Herkunft. Frösche, Schweine, Insekten und Züge begegnen Sänger*innen, menschlichem Lachen, Radiosendungen und allen möglichen Arten von unerkennbarem Quietschen. Sie begegnen sich, weil sie alle auf die gleiche Ebene gestellt werden. Die Hierarchie der Geräusche ist hier definitiv abgeschafft.
Hans Krüsis Werke gehören zweifellos zu der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, denn Krüsi erkundete als Künstler die Technologie seiner Zeit. Nichtsdestotrotz muss dieser Gedanke gleich nuanciert werden, denn es ist sehr schwierig zu schätzen, inwiefern Krüsi von der Arbeit seiner Zeitgenossen*innen beeinflusst worden ist und wie stark dieser internationale Kontext seine eigene Praxis geprägt hat. Offiziell hat er seine Absichten nie klar ausgesprochen oder sich selbst als Musiker oder Komponisten bezeichnet. In diesem Sinne wäre es problematisch, seine Arbeit so zu interpretieren, als hätte er die akademischen Normen der Musik neu definieren wollen, was zum Beispiel die Absicht von Pierre Schaeffer war, oder von Pablo Picasso und Georges Braque, wenn man nicht nur von Musik, sondern auch von visuellen Künsten spricht. Die Geschichte der Collage im 20. Jahrhundert ist die einer subversiven und umstürzlerischen Kunst. Deswegen kann der Outsider Artist Krüsi nicht ganz in die Kontinuität dieser Moderne gestellt werden. Es wäre natürlich irrelevant, ihm künstlich und nachträglich Absichten und theoretische Gedanken zu unterstellen, mit denen er sich nie identifiziert hat. Außerdem verfolgen Krüsis Aufnahmen mutmaßlich Zwecke ganz anderer Art, die sich schlecht mit revolutionären Absichten gegen akademische Kunstnormen vereinbaren lassen.
Wie bereits erwähnt, kann man davon ausgehen, dass Krüsis Tonaufnahmen ständig abgespielt wurden, wenn er im Atelier war. In diesem Sinne bildeten sie eine Art Hintergrundgeräusch, in dem er sich bewegt hat und das er immer wieder aufnahm. Seine Collagen erfüllten seinen Arbeits- und Lebensraum, sie kleideten und schmückten ihn wie Tapeten die Wände. 1956, etwa vier Jahren vor Krüsis ersten Tonaufnahmen, schuf der US-amerikanische Künstler Richard Hamilton das berühmte Werk „Just What Is It That Makes Today’s Home So Different and So Appealing?“. In dieser Arbeit wird das Interieur einer Wohnung der 1950er Jahren mit Ironie dargestellt. Gezeigt wird auch wie die damals noch junge Konsumgesellschaft den Bezug zu dem eigenen Lebensraum stark verändert hat. Anhand unendlich vieler verschiedener standardisierter Produkte, die jedem*r zu zugänglichen Preisen zur Verfügung standen, wurden zum ersten Mal in der Geschichte Wohnungen so eingerichtet, dass jedes Interieur die Identität seiner Eigentümer*innen spiegeln sollte. Dabei waren paradoxerweise die ästhetischen und praktischen Qualitäten der Objekte extrem normiert und standardisiert. In seinem Werk stellte Hamilton die moderne Wohnung folglich als eine bunte Zusammenstellung (eine Collage) von diversen Gegenständen dar, wofür die Technik der Collage nicht nur geeignet war, sondern auch ironisch genutzt wurde.
Während Hamilton auf die Collage zurückgriff, um die Natur und die Ästhetik der modernen Lebensräume zu hinterfragen, baute Hans Krüsi mit Tonaufnahmen seine eigenen immateriellen Lebensräume auf. Krüsi bewegte sich in einem hörbaren, zusammengestoppelten Interieur, das seine malerische Arbeit und alltägliche Tätigkeiten begleitete. Er schuf für sich selbst eine sonore Umgebung, in der er lebte und die er ständig durch neue Aufnahmen erweiterte. Wie der Soundtrack eines Films, haben seine Aufnahmen eine erzählende Kraft und deuten zahlreiche Bilder an, die unsichtbar in der Luft schweben. Krüsis Tonbänder und Malereien haben viele Gemeinsamkeiten. Die Tiere, die er so oft aufgenommen hat, finden sich auch überwiegend in seinem visuellen Repertoire. Hat Krüsi das gemalt, was er sich angehört hat? So einfach lässt sich seine Arbeit nicht zusammenfassen, aber er beschäftigte sich definitiv mit seiner unmittelbaren Umgebung sowohl in seiner Malerei als auch in seinen Tonaufnahmen. Er schuf sich einen neuen Lebensraum, er verdoppelte und belebte sein Atelier anhand von dem, was er kannte, was er sich angeeignet und selbst reproduziert hatte. Als hätte er sich von Tönen und Bildern umhüllen wollen, die vielleicht für eine schützende, beruhigende oder inspirierende Atmosphäre sorgen sollten. Auch Krüsi ist in seinen Aufnahmen erlebbar. Man hört – er hörte – seine Stimme, und wie sie zu sich selbst spricht. Ab und an macht er auch Musik: Flöte und Schlaginstrumente. Manchmal spielt er sogar, während ein anderes Lied im Hintergrund zu hören ist. Hat er versucht, sich in eine Welt einzugliedern, die ihm entkommen ist? Oder versuchte er eher, seine Individualität zu festigen? Die Autorin und Outsider-Art Spezialistin Maria A. Azzola spricht von „Kosmogonie“, wenn der künstlerische Ausdruck eines*r Autors*in zu der Schaffung einer neuen und eigenen Welt führt. Dabei bringen sie ein eigenartiges Korpus von Werken hervor, das einen universellen Wert hat.8 Man kann Krüsis Werk ins Licht dieser Definition stellen. Einige Fotos von seinem Schlafzimmer zeigen, wie dicht seine eigene Bilder überall um ihn herum hingen, lagen und standen. Er selbst schien kaum noch Platz zu haben. Dazu muss man sich vorstellen, wie laute Tonaufnahmen seinen Lebensraum im Hintergrund belebt haben. Er hat sich eine komplett neue Umgebung geschaffen, die ihn sowohl visuell wie auch akustisch von der echten Welt trennte. Dieses Isoliermaterial bestand aber für seine Tonaufnahmen wie für seine Malereien aus Elementen, die sich Krüsi in der Außenwelt ausgesucht, manipuliert, und so angeeignet hat. Mehr als eine Trennung, handelt es sich also vielleicht um eine tiefe, obgleich vermittelte Verbindung zur Welt.
Cover: Hans Ruedi Fricker, Hans Krüsi mit Bild „Mann mit Vogel in der Hand“, undatiert, Polaroid, Kunstmuseum Thurgau
Ich möchte mich bei Lucienne Peiry und Markus Landert sehr herzlich bedanken, weil ich ohne sie die Werke von Hans Krüsi nie entdeckt hätte.
1 Landert, Markus, und Dorothee Messmer. Hans Krüsi. Auch ein Nichts kann etwas werden. Sulgen: Niggli, 2001.
2 Leider fehlt mir in der Vorbereitung dieses Texts den Zugang zu manchen Quellen (Texten und Filme über Hans Krüsi), die vielleicht eine bessere Beschreibung seines Arbeitsverfahrens ermöglicht hätten.
3 Vowinckel, Antje. Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Königshausen & Neumann, 1995.
4 „Picasso verwendet 1912 als erster ein Stück Wachstuch in einem seiner Stillleben, um damit ein Stuhlgeflecht darzustellen. Das Realitätsfragment ersetzt somit die Abbildung desselben.“ Vowinckel, Antje. Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Königshausen & Neumann, 1995.
5 Vowinckel, Antje. Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Königshausen & Neumann, 1995.
6 cf. zum Beispiel „Étude aux chemins de fer“, 1948: https://www.youtube.com/watch?v=N9pOq8u6-bA
7 Interview von Pierre Schaeffer, ORTF, „Lectures pour tous“, 17.6.1959: https://www.youtube.com/watch?v=LfS1KboThPA
8 Azzola, Maria A. „Les langages de l’art brut“, L’art brut. Citadelles & Mazenod, 2018, S. 370