„Wie bist du zur Kunst gekommen?“ ist eine beliebte Frage an Menschen, die Kunst schaffen, über sie schreiben, oder sie ausstellen. Die Antworten sind meist biografisch und verweisen oft auf eine erste Kunsterfahrung. Neben Ausgesprochenem bestehen sie aus Vergessenem und Verschwiegenem. Immer nehmen sie vorweg, dass die Gefragten Zugang zur Kunst gefunden haben. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist das Sujet der Serie ENCOUNTERauf POKUS. In wechselnder Folge berichten Redaktionsmitglieder und Gastautor:innen von ihrer frühesten Ausstellungserfahrung. Zunächst anonym schreiben sie über innerliche und äußere Zugänge und Widerstände. Sie erzählen von den Bedingungen, unter denen Menschen zur Kunst kommen. Als Abschluss folgt ein Gespräch zur Serie, das die verschiedenen Erzählungen auflöst und kontextualisiert.
Mehrere Erinnerungen drängen sich in meinem Kopf, wenn ich versuche, auf meinen ersten Museumsbesuch zurückzublicken. Im Nachhinein schätze ich es sehr, dass ich so zahlreiche Erinnerungen sammeln durfte. Es fällt mir sehr schwer, sie chronologisch einzuordnen und wäre unfähig, zu sagen, was die allererste war. Dennoch gibt es einen Besuch, der für mich als “erstes Mal” gilt, weil er so prägend und wichtig gewesen war, dass er mich heute noch fast täglich begleitet.
Es muss eine der ersten Male gewesen sein, an denen ich in Paris war. Mein Vater brachte mich zum Louvre – davon hatte ich schon gehört, wegen der Mona Lisa. Ich weiß noch, wie ich von dem prachtvollen Gebäude stark beeindruckt war. Und von dem Gedanken, dass früher Menschen darin gewohnt hatten. Mein Vater warnte, wir würden nur einen kleinen Teil der Sammlung besuchen können. Um alles zu sehen, bräuchte man mindestens eine Woche. Perplex dachte ich erneut an die ehemaligen Bewohner:innen.
Die Mona Lisa, die ich als erstes sehen wollte, war enttäuschend klein und nicht gut zu sehen, weil zu viele Menschen – alle dreimal größer als ich – sich davor drängten. Wie sollte ich prüfen, ob ihr Blick mir von links nach rechts folgt, wenn ich mich kaum bewegen konnte? Ich folgte meinem Vater, der mir ein anderes Werk zeigen wollte.
Es war gleich hinter der Mona Lisa, aber der Raum um das Gemälde war fast leer, sodass wir es ganz allein betrachten konnten. So eine große Leinwand hatte ich gefühlt noch nie gesehen. Die sanften bunten Farben gefielen mir sofort. Auf dem Bild war sehr viel los: viele Menschen, viele Gebäude, viel Bewegung, viele Handlungen. Alles sehr konfus und geheimnisvoll.
“Unglaublich, wie die Perspektive gezeichnet ist! Links und rechts, diese Kolonnaden! Was glaubst du, erzählt dieses Gemälde?” fragte mein Vater, nicht weniger fasziniert als ich. Da ich ratlos neben ihm stand und nichts antworten konnte, fing er an, sehr methodisch die Darstellung für mich durch Fragen zu zerlegen. “Was steht genau in der Mitte?” Wir sind zwar nicht christlich, aber ich konnte Jesus und Maria erkennen. Sie saßen an einem Tisch und ihre Gesichter schienen von einem besonderen Licht erhellt zu sein. Jesus trug einen Mantel aus rotem und blauem Stoff. “Sehr gut. Kannst du nun ein bisschen weiter beschreiben, was du siehst?” Elegante Menschen aßen, tranken, musizierten, langweilten sich, diskutierten. Alle trugen entzückende Kleidungen, Frisuren und Schmuck. Es gab auch erstaunlich viele Diener:innen1. Und wunderschöne Tiere überall. Die Szene spielte in einem Palast. Es musste vielleicht ein großes Fest sein? “Ja, ganz genau. Wunderbar!” Das, was ich am Anfang als chaotisch empfunden hatte, ergab im Laufe meiner Beschreibung allmählich Sinn. Es war nicht mehr so schwierig, zu sehen, was auf dem Gemälde dargestellt war. “Und jetzt versuch, die diagonalen Linien in deinem Kopf zu zeichnen. Siehst du, dass der Maler dich dazu einlädt? Er hat bereits diese Linien angedeutet: Hier mit einem Schatten, hier mit einem Arm und einem Kopf, und da noch mit dem Tisch. Siehst du? Im unteren Teil, ganz unten auf dem Boden, sind zwei Hunde. Und ein bisschen höher steht eine Gruppe von Musikern, deren Instrumente Geigen und Kontrabässen ähneln. Über sie stehen Jesus, Maria und die Gäste, die mit ihnen am Tisch essen. Der Tisch breitet sich von links nach rechts fast auf die gesamte Oberfläche der Leinwand. Und im obersten Teil des Gemäldes ist der Himmel, deren blauen Töne an Jesus’ Mantel erinnern. Der Himmel ist ein Symbol: Für Menschen, die an Gott glauben, stellt er sozusagen Gottes Reich dar. Deshalb hat der Maler ihm einen besonderen Platz im Gemälde gewidmet. Verstehst du, wie er sein Bild komponiert hat? Es gibt von unten nach oben eine Hierarchie zwischen den Wesen und Sachen, die abgebildet sind.” Mir blieb der Mund offen stehen. In der Schule hatte ich gelernt, wie Buchstaben Worte und Worte Sätze bilden. Ich wusste aber nicht, dass auch Bilder gelesen werden konnten. Und dass manche so komplex waren, dass man sie methodisch zerlegen musste, um sie zu lesen.
Gierig wollte ich gleich mit meinem Vater versuchen, alle Gemälde des Museums zu entziffern. Es schien mir, als gäbe es nichts Spannenderes als das. Als würde ich mein ganzes Leben nichts anderes tun wollen. “Papa, wie heißt dieses Gemälde? Ich möchte mich daran erinnern.” – “Das ist ein sehr berühmtes Werk. Es ist vom italienischen Maler Veronese und heißt ‘Die Hochzeit zu Kana’.”
Titelbild: Paul Véronèse, Les Noces de Cana, 1563, 677 x 990 cm. Musée du Louvre, Paris.
1 Dieses Bild, wie viele aus der Zeit, enthält rassifizierende, kolonialistische, ableistische, und sexistische Darstellungen, die ich als Kind nicht identifiziert habe und die im Museum nicht thematisiert wurden.
„Wie bist du zur Kunst gekommen?“ ist eine beliebte Frage an Menschen, die Kunst schaffen, über sie schreiben, oder sie ausstellen. Die Antworten sind meist biografisch und verweisen oft auf eine erste Kunsterfahrung. Neben Ausgesprochenem bestehen sie aus Vergessenem und Verschwiegenem. Immer nehmen sie vorweg, dass die Gefragten Zugang zur Kunst gefunden haben. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist das Sujet der Serie ENCOUNTER auf POKUS. In wechselnder Folge berichten Redaktionsmitglieder und Gastautor:innen von ihrer frühesten Ausstellungserfahrung. Zunächst anonym schreiben sie über innerliche und äußere Zugänge und Widerstände. Sie erzählen von den Bedingungen, unter denen Menschen zur Kunst kommen. Als Abschluss folgt ein Gespräch zur Serie, das die verschiedenen Erzählungen auflöst und kontextualisiert.
Mehrere Erinnerungen drängen sich in meinem Kopf, wenn ich versuche, auf meinen ersten Museumsbesuch zurückzublicken. Im Nachhinein schätze ich es sehr, dass ich so zahlreiche Erinnerungen sammeln durfte. Es fällt mir sehr schwer, sie chronologisch einzuordnen und wäre unfähig, zu sagen, was die allererste war. Dennoch gibt es einen Besuch, der für mich als “erstes Mal” gilt, weil er so prägend und wichtig gewesen war, dass er mich heute noch fast täglich begleitet.
Es muss eine der ersten Male gewesen sein, an denen ich in Paris war. Mein Vater brachte mich zum Louvre – davon hatte ich schon gehört, wegen der Mona Lisa. Ich weiß noch, wie ich von dem prachtvollen Gebäude stark beeindruckt war. Und von dem Gedanken, dass früher Menschen darin gewohnt hatten. Mein Vater warnte, wir würden nur einen kleinen Teil der Sammlung besuchen können. Um alles zu sehen, bräuchte man mindestens eine Woche. Perplex dachte ich erneut an die ehemaligen Bewohner:innen.
Die Mona Lisa, die ich als erstes sehen wollte, war enttäuschend klein und nicht gut zu sehen, weil zu viele Menschen – alle dreimal größer als ich – sich davor drängten. Wie sollte ich prüfen, ob ihr Blick mir von links nach rechts folgt, wenn ich mich kaum bewegen konnte? Ich folgte meinem Vater, der mir ein anderes Werk zeigen wollte.
Es war gleich hinter der Mona Lisa, aber der Raum um das Gemälde war fast leer, sodass wir es ganz allein betrachten konnten. So eine große Leinwand hatte ich gefühlt noch nie gesehen. Die sanften bunten Farben gefielen mir sofort. Auf dem Bild war sehr viel los: viele Menschen, viele Gebäude, viel Bewegung, viele Handlungen. Alles sehr konfus und geheimnisvoll.
“Unglaublich, wie die Perspektive gezeichnet ist! Links und rechts, diese Kolonnaden! Was glaubst du, erzählt dieses Gemälde?” fragte mein Vater, nicht weniger fasziniert als ich. Da ich ratlos neben ihm stand und nichts antworten konnte, fing er an, sehr methodisch die Darstellung für mich durch Fragen zu zerlegen. “Was steht genau in der Mitte?” Wir sind zwar nicht christlich, aber ich konnte Jesus und Maria erkennen. Sie saßen an einem Tisch und ihre Gesichter schienen von einem besonderen Licht erhellt zu sein. Jesus trug einen Mantel aus rotem und blauem Stoff. “Sehr gut. Kannst du nun ein bisschen weiter beschreiben, was du siehst?” Elegante Menschen aßen, tranken, musizierten, langweilten sich, diskutierten. Alle trugen entzückende Kleidungen, Frisuren und Schmuck. Es gab auch erstaunlich viele Diener:innen1. Und wunderschöne Tiere überall. Die Szene spielte in einem Palast. Es musste vielleicht ein großes Fest sein? “Ja, ganz genau. Wunderbar!” Das, was ich am Anfang als chaotisch empfunden hatte, ergab im Laufe meiner Beschreibung allmählich Sinn. Es war nicht mehr so schwierig, zu sehen, was auf dem Gemälde dargestellt war. “Und jetzt versuch, die diagonalen Linien in deinem Kopf zu zeichnen. Siehst du, dass der Maler dich dazu einlädt? Er hat bereits diese Linien angedeutet: Hier mit einem Schatten, hier mit einem Arm und einem Kopf, und da noch mit dem Tisch. Siehst du? Im unteren Teil, ganz unten auf dem Boden, sind zwei Hunde. Und ein bisschen höher steht eine Gruppe von Musikern, deren Instrumente Geigen und Kontrabässen ähneln. Über sie stehen Jesus, Maria und die Gäste, die mit ihnen am Tisch essen. Der Tisch breitet sich von links nach rechts fast auf die gesamte Oberfläche der Leinwand. Und im obersten Teil des Gemäldes ist der Himmel, deren blauen Töne an Jesus’ Mantel erinnern. Der Himmel ist ein Symbol: Für Menschen, die an Gott glauben, stellt er sozusagen Gottes Reich dar. Deshalb hat der Maler ihm einen besonderen Platz im Gemälde gewidmet. Verstehst du, wie er sein Bild komponiert hat? Es gibt von unten nach oben eine Hierarchie zwischen den Wesen und Sachen, die abgebildet sind.” Mir blieb der Mund offen stehen. In der Schule hatte ich gelernt, wie Buchstaben Worte und Worte Sätze bilden. Ich wusste aber nicht, dass auch Bilder gelesen werden konnten. Und dass manche so komplex waren, dass man sie methodisch zerlegen musste, um sie zu lesen.
Gierig wollte ich gleich mit meinem Vater versuchen, alle Gemälde des Museums zu entziffern. Es schien mir, als gäbe es nichts Spannenderes als das. Als würde ich mein ganzes Leben nichts anderes tun wollen. “Papa, wie heißt dieses Gemälde? Ich möchte mich daran erinnern.” – “Das ist ein sehr berühmtes Werk. Es ist vom italienischen Maler Veronese und heißt ‘Die Hochzeit zu Kana’.”
Titelbild: Paul Véronèse, Les Noces de Cana, 1563, 677 x 990 cm. Musée du Louvre, Paris.
1 Dieses Bild, wie viele aus der Zeit, enthält rassifizierende, kolonialistische, ableistische, und sexistische Darstellungen, die ich als Kind nicht identifiziert habe und die im Museum nicht thematisiert wurden.