ENCOUNTER 1

„Wie bist du zur Kunst gekommen?“ ist eine beliebte Frage an Menschen, die Kunst schaffen, über sie schreiben, oder sie ausstellen. Die Antworten sind meist biografisch und verweisen oft auf eine erste Kunsterfahrung. Neben Ausgesprochenem bestehen sie aus Vergessenem und Verschwiegenem. Immer nehmen sie vorweg, dass die Gefragten Zugang zur Kunst gefunden haben. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist das Sujet der neuen Serie ENCOUNTER auf POKUS. In wechselnder Folge berichten Redaktionsmitglieder und Gastautor:innen von ihrer frühesten Ausstellungserfahrung. Zunächst anonym schreiben sie über innerliche und äußere Zugänge und Widerstände. Sie erzählen von den Bedingungen, unter denen Menschen zur Kunst kommen. Als Abschluss folgt ein Gespräch zur Serie, das die verschiedenen Erzählungen auflöst und kontextualisiert.

Die Drehtür der Staatsgalerie Stuttgart verwandelt uns alle in Museumspublikum, dann gibt sie das geräumige Foyer frei. Vor unseren Füßen erstreckt sich ein weiter, grellgrüner Noppenboden. Ohne jedes Zögern rauschen die anderen Besucher:innen an mir vorbei. Als seien sie es gewohnt, über außerirdischen Grund zu laufen. Ich dagegen hänge fest. Mein rechter Fuß, samt Sandale Schuhgröße Neunundzwanzig, schwebt über den Noppen in der Luft. Als sei ich eine Comicfigur. 

Die tausend runden Erhebungen reflektieren matt die Nachmittagssonne. Einen Augenblick lang halte ich sie für rasterförmig ausgelegte Münzen. Der gesamte Raum ist mit D-Mark gepflastert. Geldstücke, die man nicht aufheben, sich nicht aneignen kann, weil sie in dieses Gebäude eingeschweißt, in ihm institutionalisiert sind. Ein Kunstrasen, gesät auf Geld, darauf ein Tresen, Büchertische, eine offene Cafeteria. Und die Füße sehr vieler Menschen. 

Plötzlich stellt mir die Drehtür ein Ultimatum. Ich entscheide mich für Eintritt, setze einen, dann den anderen Fuß auf das Grün, gehe atemlos vorwärts, darf nur jede zehnte Noppe berühren, genieße den Kitzel, triumphiere, als ich endlich wieder stehen darf, anstehen, an der Kasse, gemeinsam mit dem Rest meiner Kindergartengruppe.

Aus einer schlaffen Hand direkt vor meinen Augen kullert ein nacktes Markstück. Mir stockt der Atem. Stumpf kommt die Münze auf. Sie eiert über die Noppen, bis sie gegen den Kassentresen klickt. Direkt vor meinen Augen klaffen derweil die Finger, denen das Geldstück entkommen ist. Es sind langsame Finger. Die steifen Gliedmaßen eines alten Mannes, den es bestimmt eine Stunde kosten würde, sich zu bücken. Ich schlage einen Purzelbaum nach seinem Geldstück, packe es, rapple mich wieder auf, lege das Ding zurück in seine Hand. Erledigt, denke ich. Da beginnt der Mann, sich in Zeitlupe zu mir herabzubeugen, auf meine Augenhöhe, und nivelliert mit jedem Zentimeter auch meinen Versuch, ihn vor eben dieser Bewegung zu bewahren. Als wir einander anblicken können, bedankt er sich laut und deutlich, dass ich ihm seine Mark zurückgegeben habe: „Danke, dass du mir meine Mark zurückgegeben hast.“ Er klopft mir sehr langsam auf die Schulter. Im gleichen Tempo verstehe ich: was ich getan habe, war keine Selbstverständlichkeit. Es war ein Verdienst. Als hätte ich die Mark auch einfach einstecken, mir davon später ein Bubblegum aus dem Automat ziehen und so lange darauf herumkauen können, bis der Geschmack weg und das schlechte Gewissen da wäre. Niemals hätte ich das Geldstück geklaut, während hundert Augen meine Rolle vorwärts über die Noppen hin zu dem Geldstück verfolgten. Der Diebstahl wäre tausendfach bezeugt worden. Trotzdem dankt mir der fremde Mann für meine Ehrlichkeit. Damit ich auch dann, wenn keiner hinguckt, nicht klaue. 

Plötzlich weicht der alte Mensch zur Seite. Jetzt darf meine Kindergartengruppe Tickets lösen. Ich muss keine Münzen aus meinem kleinen bunten Rucksack angeln. Die Erzieherin regelt das. Kinder sind hier kostenlos. Mit den Freikarten dürfen wir auf die Rampe zur Ausstellung. Darin setzt sich der grüne Geldteppich fort. Ein bisschen sicherer fühle ich mich nach meiner Rolle vorwärts auf diesem Grund, trotzdem wage ich nicht, die Erzieherin zu fragen, ob unter dem Plastik echte Münzen eingeschlossen sind. Ob man sie herausploppen kann wie aus einem Tablettenblister. Besser, ich stelle alle möglichen Fragen zu dem, was an den Wänden ist: Bilder.

Während meine Mutter Gemüse für das Abendbrot schneidet, stellt sie mir alle möglichen Fragen zur Ausstellung. Ich weiß, dass sie schon in der Staatsgalerie gewesen ist, dass auch sie über die Noppen gewandert sein muss, aber ich spreche den Geldrasen nicht an, sondern nenne ihr die Antworten, die mir die Erzieherin gegeben hat. Meine Mutter hört nur halb zu, hat ihre eigenen Bilder im Kopf, Arbeitsbilder. Plötzlich seufzt sie, klappt den Oberschrank auf, wühlt, bringt ein kleines rundes Päckchen zum Vorschein und wickelt es aus. Ihr Schleifstein. Es ist wieder so weit. Einmal im Monat wetzt sie mit absonderlicher Liebe ihre Messer. Küchenutensilien bedeuteten ihr nichts, hat sie einmal gesagt, als eine Nachbarin sie zur Tupperparty einlud, aber das stimmt nicht ganz, denn ihren Satz Messer pflegt sie, als müsse sie das ganze Leben damit haushalten. Manchmal, an Tagen wie diesen, wenn sie schnell arbeitet, weil sie für alles zu wenig Zeit hat, hackt sie hin und wieder in ihre eigene Hand. Deswegen stockt mir zum zweiten Mal an diesem Tag der Atem, als sie den Stein wieder einmummelt und rhythmisch weiterschneidet, befriedigt darüber, wie leicht es jetzt ist. Ich weiß, ich sollte sie nicht stören, nicht jetzt, wo die Klinge geschärft ist, aber da ploppt es schon aus meinem Mund. „Du, ist der Boden in der Staatsgalerie wirklich aus Geld?“. Wie absurd es klingt, verstehe ich selbst. Sie beginnt, zu lachen, ihre Hände schüttelten sich mit, gleich wird sie sich verletzen. „Der mit den Noppen“, hänge ich an, um sie wieder ernst zu stimmen. Noppen, das ist für mich ein sehr seriöses Wort. Aber meine Mutter grinst mich bloß an. „Willst du weiterschneiden?“, sie weist mit der Klinge auf die Zuckererbsen, „die haben auch Noppen“. Ich stelle mich neben sie, übernehme das Messer, zerteile die knallgrünen Schoten. „Vorsicht, scharf“, sagt sie noch. Kleine, grüne Erbsen kullern aus den geöffneten Hülsen. Als wir essen, kann ich kaum kauen. Aus Angst, auf Geld zu beißen.

In der Nacht schlafwandele ich. Ich gehe in die Küche und sortiere die Messer. Das machen viele somnambule Kinder, hat meine Mutter einmal erzählt. Meistens passiert nichts. 

Aber Mama, es hätte passieren können, dass ich nachts zurück zum Museum gehe, das Glas der Drehtür eintrete, dein gewetztes Messer im bunt gemusterten Rucksack. Ich würde mich auf den Boden knien und die Klinge anlegen. Ich würde die Geldstücke ausschneiden. Jedes einzeln, mit einem gekonnten, kreisförmigen Schnitt, und in meinen kleinen Sack legen. Ich würde über Nacht ein Vermögen aus matten, grünen Plastikmünzen anhäufen. Ich hätte für mein ganzes Leben ausgesorgt.

Titelbild: © renate1706