Empfindsame Zonen

In André Uerbas Æffective Choreography reflektieren die fünf Performer:innen György Jellinek, Jone San Martin, Lyllie Rouvière, Manoela Rangel und Pedro Aybar die Gefühle, die ihren Körpern innewohnen, und zeigen dabei Verletzbarkeit. Die Uraufführung fand am 29. Juli 2022 als Teil der Programmreihe SENSE im Radialsystem statt.

Nur mit Socken bekleidet oder barfuß betreten die Zuschauer:innen den hellen Tanzboden, setzen sich. Die sommerliche Abendsonne scheint durch die Fenster des Radialsystems, ihre warmen Strahlen werden von der Spree reflektiert und glitzern in den Scheiben. An die Wand gelehnt schwingen die Performer:innen György Jellinek, Jone San Martin, Lyllie Rouvière, Manoela Rangel und Pedro Aybar ihre Körper langsam hin- und her, als ein:e Performer:in einen Rollkoffer in die Mitte des Raums schiebt. Dann kommen die anderen hinzu, setzen sich um den Koffer und aufeinander, als seien ihre Körper auch Mobiliar, ihre Beine überschlagen sich. Sie reiben ihre Hintern und Geschlechtsteile an den Köpfen und Schultern der anderen Performenden, streicheln die Hände. Sie halten sich am Nacken, halten Kontakt zueinander. Hinter einem Mischpult sitzend begleitet die Sounddesignerin Kreatress die Szene mit einem flüsternden Summen.

Mit geschlossenen Augen schmiegt sich die Performerin Jone San Martin an die Wand, an der ich sitze. Sie beginnt, sich selbst zu streicheln und zu entkleiden, lässt ihre Wäsche zu Boden fallen. Mittlerweile ist es so leise, dass selbst das Abstreifen der Kleidung an der Haut zu hören ist. Nackt gehen die Performer:innen durch den Raum und heben Tücher vom Boden auf, ziehen sie beim Gehen hinter sich her und halten sie dann vor ihre Körper. Auf den halbtransparenten Tüchern sind Geschlechtsteile in Nahaufnahme abgebildet – ihre eigenen? Sie verhüllen sich hinter den Fotodrucken, decken sich liegend mit ihnen zu, verstecken sich und ihre Gesichter hinter den Vulven und Gliedern. Sie krümmen sich noch liegend zur Seite, liegen müde und verletzlich in einer Reihe. Aus den Lautsprechern ertönen Tropfenklänge und Kreatkress, die mittlerweile auch ihre Kleidung abgelegt hat, summt mit heller Kopfstimme eine Melodie.

Nachdem die Performer:innen die Tücher an einer Stangenkonstruktion aufgehängt haben, reihen sie sich hinter einem Standmikrofon auf und stellen sich vor, indem sie Fragmente aus ihren Erinnerungen vortragen, die sie geprägt haben. Dabei arbeiten sie sich von ihren äußeren Erscheinungen und Attributen (zum Beispiel Gewicht, Zustand der Zähne, Anzahl der Geschwister) über Erlebtes (früher Todesfall eines Elternteils, Mobbing aufgrund von Äußerlichkeiten oder sexueller Identität) und hin zu ihren inneren Empfindungen (Gefühle der Lust, Scham oder Einsamkeit). Sie erzählen sowohl von Traumata und queeren Lebensrealitäten als auch von humorvolle Momenten und Hormonen, teilen ihre Geschichten mit dem Publikum, das mitfühlt und mitlacht. Die Performer:innen zeigen ihre Verletzungen und Verletzbarkeiten, die sie durch ihr Leben schieben wie den Rollkoffer zu Beginn der Performance, und zugleich ihren emanzipatorischen Widerstand gegen dysfunktionale Empfindungen, Beziehungen und Urteile in Form der Selbstliebe.

Im Folgenden reiben sich die Performer:innen mit einem kalten Eisklotz ein, woraufhin die Tropfen den Boden nässen. Auch die verschlungenen Körper beginnen ineinander zu verschmelzen. Die nackte Haut rötet sich durch die Kälte und zur Erwärmung pusten die Performer:innen sich gegenseitig auf die Arme und Bäuche, sodass es kitzelt und schmatzt, die Haut vibrieren lässt, von außen nach innen dringt. Sitzend und zum Publikum ausgerichtet, lassen sie zuletzt ihre Geschlechtsteile singende Bewegungen nachahmen. Womöglich um zu zeigen, dass die semiologisch aufgeladenen äußeren Geschlechtsmerkmale nicht nur zur sexuellen Stimulation da sind. Oder dass der Körper nicht nach Schönheit und Perfektion streben muss, sondern dass er okay ist, wie er ist, mit all den vermeintlichen Makeln.

Empfindsame Zonen werden oft sexualisierend auf die äußeren Geschlechtsteile bezogen. Doch auch im Körper rotieren Gefühle, Emotionen, Erinnerungen und Verletzungen als verkörperte Spuren menschlichen Zusammenlebens in durch gewaltsame Machtverhältnisse geprägten Gesellschaften. Wie in verschlossenen Rollkoffern werden diese Affekte häufig unachtsam durch den Alltag geschoben. Diese verkörperten und vielleicht auch konfusen Übergänge spürt André Uerbas Æffective Choreography auf und bringt sie in einem prozessualen Wechselspiel zwischen sozialer Interaktion und Introspektion zum Vorschein.


Zum performativen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum siehe Gilles Deleuze, Félix Guattari „Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie“ (1980) und zur Klärung des Begriffs „affect“ siehe Eric Shouse, „Feeling, Emotion, Affect“, in: M/C Journal, 8(6) (2005), URL: https://journal.media-culture.org.au/index.php/mcjournal/article/view/2443.

Fotos: Alicja Hoppel

Janine Muckermann is a visual artist and cultural theorist. She co-founded POKUS in early 2019. In her writings she mainly focuses on the connection between text/dance/movements and on performative processes, referring to intersectional questions of power, knowledge, accessibility, and feminist spatial practices.