Das Politische der Trauer

Was ein Leben betrauerbar macht – das fragt die Philosophin Judith Butler seit Jahren.1 Wie sich zu Verstorbenen, denen man nie begegnet ist, Nähe schaffen lässt, diese Frage ergänzen die Filmemacher:innen Laura Poitras und Sean Vegezzi aktuell im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.). Ich begegne diesen Überlegungen in der Ausstellung Circles nicht zum ersten Mal, denn ich kenne Sterbende seit Langem nur durch Erzählungen und Artikel, von Büchern und Gedenktafeln, immer aus vermittelter Nähe, nie aus eigener Naherfahrung. 

Jedes Mal, wenn mich ein fremder Tod berührt, versuche ich, die Nähe zu entziffern, die ich empfinde. Besonders, wenn es sich um Menschen handelt, die ein gänzlich anderes Leben gelebt haben, als ich es tue, mit denen ich mich also nicht unmittelbar identifizieren kann. Oder, wenn ich vom Versterben von Menschen erfahre, über die ich nichts, oder kaum etwas weiß, die ich also nicht identifizieren kann. Und dann sind da noch die vielen gelebten Leben, von denen ich nie hören werde, von deren Geburten und Sterben ich höchstens ahnen kann. Leben, die für mich kaum betrauerbar sind, aus vielen verschiedenen Gründen. 

Diesen Fragen kann man im Stillen nachgehen, aber rein privat halten lassen sie sich nicht. Sie sind so groß, dass sie sich nicht persönlich beantworten lassen, weder ethisch, noch praktisch. Sie entwischen ins Politische. Sie werden von Gesellschaften verhandelt und geordnet, nicht nur in der gegenwärtigen Pandemie oder der zeitgenössischen Klimapolitik. Welches Leben geschützt und welches Sterben betrauert wird, so betont Judith Butler, sei davon abhängig, wer Gesellschaften als Mensch gelte.2 Und diese Menschlichkeit wurde in der Vergangenheit und Gegenwart meist durch patriarchale, rassistische, ökonomische und koloniale Strukturen geformt.

Butler erforschte das Politische der Trauer in den Kontexten von AIDS-Pandemie und Irakkrieg, später auch von Klimakrise und Covid-19.3 Laura Poitras und Sean Vegezzi finden dieses Politische in ihrem Film Hart Island auf einer Friedhofsinsel im Norden New Yorks, wo die Behörden Obdachlose, Seuchenopfer, Totgeborene und Verarmte begraben lassen, Menschen, deren Beerdigung niemand sonst bezahlen und vollziehen würde. In Hart Island übernehmen Gefängnisinsassen und Bagger die Bestattung, mit der Erde des keinen Quadratkilometer großen Eilands. Der Film stellt also nicht nur die Frage, was ein Leben betrauerbar macht, sondern auch, wer sich um das Ende prekärer Leben kümmert.

Ausstellungsansicht Laura Poitras. Circles, Neuer Berliner Kunstverein, 2021;
Listen to the Hacks: Data Sonification, von Brian Eno, Forensic Architecture, 2021;
Edgelands: Hart Island, von Sean Vegezzi, Laura Poitras, 2021 © Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.) / Jens Ziehe

Selbst näherte sich Sean Vegezzi dem Ort und seinen Toten erstmals durch die Erzählungen seines Bruders, der als Häftling dort in den 2000ern einen Arbeitseinsatz ableistete. 2020, als die Covid-19-Pandemie in New York grassierte und plötzlich so viele Menschen verstarben, dass Leichenhallen überbelegt waren, brachte man einige Pandemietote nach Hart Island. Gleichzeitig häuften sich Berichte, dass die Häftlinge in New Yorker Gefängnissen kaum gegen Covid-19 geschützt würden. Vegezzi, der sich wie Laura Poitras seit Jahren kritisch mit der Praxis der US-amerikanischen Sicherheitsbehörden befasst, vermutete, dass trotz der Ansteckungsgefahren weiterhin Beerdigungen in Hart Island durchgeführt wurden, durch Gefängnisinsassen, deren Gesundheit dabei preisgegeben wurde. Um dies zu belegen, verfolgte Vegezzi einen Totentransporter nach Hart Island, mit einer Drohne.4

Der resultierende Film zeigt diese Reise unkommentiert und mit wenigen Schnitten. Nur Untertitel verorten das Geschehen und benennen den jeweiligen Vorgang. Der Wagen durchquert erst ein wohlgeordnetes Villenviertel am nördlichen Rand der Stadt. Dann wird er auf eine Fähre verladen. In der letzten Station des Films, auf Hart Island, schwebt die Drohne über einem Graben, den Bagger zwischen blattlosen Bäumen und verwitterten Backsteinbauten ausgehoben haben. Die Kamera bewegt sich analog zu einem Schaufellader, der über der Senke rotiert, scheint auf seine Bewegungen zu antworten. Aber die Bestattung wird nicht rein mechanisch durchgeführt, sondern, ganz, wie Poitras vermutete, auch von Häftlingen. An der Senke stehen Menschen in weißen Arbeitsoveralls. Sie kümmern sich um etwas, das von weitem aber aussieht wie längliche, ordentlich gestapelte Holzklötze, wahrscheinlich aber Särge sind. Wahrscheinlich, denn viel näher kommt die Drohne weder den Toten, noch den Häftlingen, die sie bestatten. Die Auflösung der fliegenden Kamera bestimmt, wie viel Nähe das Publikum zu den Verstorbenen gewinnen kann, über die es nichts weiß, oder besser: über die es nichts wissen kann. 

Die US-Behörden halten die Öffentlichkeit auf Distanz zu Hart Island. Möglichkeiten der Annäherung sind bisher vor allem von Künstler*innen geschaffen worden. So betreibt Melinda Hunt seit 1994 das Hart Island Project. Die Initiative pflegt eine digitale Plattform zum Andenken an die Bestatteten. Sie engagiert sich zudem seit Jahren für Besuchsmöglichkeiten für Angehörige.5 Die Verstorbenen werden hier im Nachhinein durch die errungene intellektuelle und räumliche Nähe betrauerbar. 

Poitras und Vegezzi nähern sich Hart Island auf andere Weise. Denn ihre Drohne richtet sich nicht nur auf die Särge von Toten, die nicht betrauert werden können, sondern auch auf die Totengräber:innen, deren Leben riskiert werden, weil sie den Behörden als nicht betrauerbar zu gelten scheinen. Damit erinnert der Film, dass die Fragen nach dem Betrauerbaren keine vergeblichen, immer zu spät gestellten Fragen sind, die sich höchstens aufarbeiten lassen, sondern dass diese Fragen ins Leben zurückgreifen. Jetzt und künftig gibt es Existenzen, die als nicht betrauerbar gelten, deren Prekarität damit gerechtfertigt und ausgenutzt werden kann. Poitras und Vegezzi ist es gelungen, die Nähe zwischen der Betrauerbarkeit der Lebenden und der Toten ins Bild zu fassen. Die Aufnahmen dokumentieren damit das Politische der eingangs genannten Fragen. Sie bringen nicht nur Ausstellungsbesucher*innen ins Nachdenken, sondern hatten auch Folgen für die New Yorker Behörden. Denn lokale Medien publizierten Vegezzis Material als Beleg für Verstöße gegen die Rechte der als Totengräber*innen verpflichteten Häftlinge. Die Stadt musste dazu übergehen, Vertragsarbeiter*innen für die Bestattungen zu beschäftigen.6  

Damit erlangte Hart Island letztes Jahr Bekanntheit als schockierendes Beispiel für ein öffentliches Regime der Betrauerbarkeit. Unsichtbarer ist dieses Regime an einem anderen, namhaften und reputablen Trauerplatz, dem Dorotheenstädtischen Friedhof, der direkt neben dem Neuen Berliner Kunstverein liegt. In unmittelbarer Nachbarschaft der Ausstellung von Poitras und Vegezzi sind zahlreiche politische, wissenschaftliche und künstlerische Persönlichkeiten beerdigt. Die Schau bringt mittels des Films ein Massengrab in die Nähe dieses namhaften Friedhofs. Sie bringt Verstorbene, deren Leben nicht betrauert werden kann, zusammen mit Toten, deren Leben in zahllosen Biografien und Nachrufen, ja sogar in Berlin-Reiseführern betrauert werden.

Plötzlich stelle ich mir die Frage, welche Nähe ich zu Menschen haben kann, deren Leben betrauerbar ist, deren Andenken so prominent ist, wie auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Ich verlasse die Ausstellung und mache mich auf den Weg zu dieser so anderen Ruhestätte. Hier hält mich kein Sicherheitsapparat zurück, im Gegenteil, es gibt Führungen und Informationstafeln. Dieser Berliner Friedhof und das New Yorker Massengrab existieren in der gleichen Welt, sie hängen zusammen. Es ist dieser Zusammenhang, dem ich jetzt wortwörtlich nachgehe, indem ich durch die Ausstellungstüren und dann das Friedhofsportal trete. Wie lässt sich zu Verstorbenen, denen man nie begegnet ist, Nähe schaffen? Vielleicht, indem man die Nähe und Distanz zwischen ihnen beschreibt, die Beziehung zwischen Existenzen, die betrauerbar scheinen, und Leben, denen diese Möglichkeit genommen ist.

Ausstellungsansicht Laura Poitras. Circles, Neuer Berliner Kunstverein, 2021:
Edgelands: Hart Island, von Sean Vegezzi, Laura Poitras, 2021
© Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.) / Jens Ziehe

1 siehe Judith Butler, Precarious Life, London/New York 2004, S. 20.
2 siehe Judith Butler, Precarious Life, London/New York 2004, S. 31.
3 siehe Judith Butler, Precarious Life, London/New York 2004; Judith Butler, Frames of War: When Is Life Grievable?, London/New York 2009; Judith Butler im Gespräch mit Mikkel Krause Frantzen während des digitalen Symposiums The Culture of Grief – Philosophy, Ecology and Politics of Loss in the Twenty-first Century, ausgerichtet von der Aalborg-Universität, 03.12.20, https://www.aau.dk/arrangementer/vis/the-culture-of-grief—-philosophy–ecology-and-politics-of-loss-in-the-twenty-first-century.cid455301
4 siehe Sean Vegezzi im Interview mit Theo Kindynis, Kaleidoscope, ohne Datum, https://www.kaleidoscope.media/article/sean-vegezzi.
5 siehe John Freeman Gil, “Hart Island’s Last Stand”, The New York Times, 16.07.21, https://www.nytimes.com/2021/07/16/realestate/hart-island-planned-demolition.html.
6 siehe Sean Vegezzi im Interview mit Theo Kindynis, Kaleidoscope, ohne Datum, https://www.kaleidoscope.media/article/sean-vegezzi.

Lena Schubert is a writer exploring art in the contexts of housing and the city, histories of knowledge, sustainability, and psychology. Her post-critical essays derive from critical theory rather than traditional art critique. She partly takes detours into fiction.