16 Uhr in Berlin. Es ist Ende Oktober und der Winter ist zu spüren, denn die Sonne geht fast schon unter. Ich öffne eine Tür und auch dort begegne ich der Dämmerung. Ich sehe rote Palmen in den letzten Sonnenstrahlen, einen Strand mit feuchtem und warmem Sand, das Meerwasser, wo goldene Spiegelungen leuchten. Überall glänzen kleine Splitter so wie Sternenstaub oder Pailletten, die dieser Landschaft einen fabelhaften Anblick verleihen. Oder einen kitschigen. Der Anblick sieht so sehr paradiesisch aus, dass es fast verdächtig scheint. Meine Augen vernehmen ein unbeschreibliches Quietschen. Dieses Bild ist wie eine Postkarte, deren Druck viel zu groß, deren Inhalt viel zu flach ist. Man will sich auf diesem Strand ungerne hinlegen.
Ich wende diesem Bild den Rücken zu und betrete einen dunklen Raum, wo einen Film projiziert wird. Immer noch derselbe Strand, immer noch dieselben Palmen, derselbe Sand und dieselben Farben der Dämmerung. Das Meer sieht ruhig, harmlos aus. Langsam komme ich näher zu seiner undurchschaubaren Oberfläche. Seine Bewegung scheint still und friedlich. Plötzlich taucht der Kopf ins Wasser. Auch dort ist alles ruhig. Vor mir steht ein Block Beton, dem ich mich langsam und vorsichtig nähere. Die Musik wird lauter und bedrückend. Der Rhythmus wird schneller. Ich schwimme durch ein Fenster. Der Raum ist voll mit Wasser. Davon abgesehen ist er leer. Die Musik wird ruhiger. Ich stehe wieder am Strand und schaue mir die andere Seite der Landschaft an, um zu verstehen, was diese Insel so unheimlich macht. Der Block Beton unter Wasser ließ eine Art Atlantis der modernen Zeiten andeuten. Was werden wir im Inland entdecken? Palmen. Eine üppige Vegetation. Einen Moment bleibe ich still, um zu erkennen, dass sich nichts bewegt. Bloß der Wind streichelt die Palmenblätter. Ich gehe wieder ins Wasser, unter Wasser, in den Block Beton, in den Palmenwald: Nichts. Nichts. Kein Leben, nirgendwo. Hier ist kein Leben, aber tot ist es auch nicht: Weit hinten im Wasser schwimmen kleine Fische, überall gibt es Vegetation. Es handelt sich weder um eine Dokumentation, noch um eine Fiktion, aber die Ästhetik des Films ist inspiriert von diesen zwei Gattungen, um uns dazu zu bringen, das nicht leere Nichts, in dem wir uns bewegen, hinterzufragen. Es gibt keine Handlung, keine Antwort, keine Entwicklung aber auch keine Stagnation. Auf dieser Insel spukt es nicht. Der Ort wird jedoch von einer anderen Seltsamkeit bewohnt.
Ich verlasse den Projektionsraum. Hinter dem Bildschirm befindet sich einen langen Installationsraum, in dem ich mich frei zwischen den aufgestellten Objekten bewegen kann. An manchen Stellen liegen auf dem Boden Plastiken, die an Kokosnüsse erinnern. Es ist teilweise so, als seien sie gepflückt und angehäuft. Links davon hängt ein imposanter Gegenstand, wie eine Glocke aus trockenem Holz. Doch sind die Kokosnüsse aus Blei und die Glocke aus verrostetem Metall. Das sieht man erst, wenn man nah davor steht. Ganz oben über mir hängen durchsichtige Plastikbeutel. Es sind dieselben Plastikbeutel, wie die, die man in Tierhandlungen bekommt, wenn man einen Fisch kauft. Diese hier enthalten aber nur Wasser, manchmal auch eine Alge oder ein bisschen Schlamm. Hinten im Raum thront einen Bildschirm, auf welchen ein Film projiziert wird, der mit einer reglosen Kamera aufgenommen wurde. Der Fokus liegt stets auf einer alten Schiffsschraube. Die einzige Bewegung ist die vom Wasser. Die Schiffsschraube sieht sehr groß aus, aber der Rahmen ist zu eng, um den Maßstab richtig einschätzen zu können.
In dem Rundgang, den ich hiermit noch einmal durchlaufe, ist jedes Element doppelseitig. Jede Landschaft und jeder Bestandteil der Landschaft enthält ein unbeschreibliches und unscharfes Rätsel. Das Rätsel hat mit einer Art Zwiespältigkeit zu tun. Oder vielmehr mit einer Ambivalenz. Jedes Objekt hat eine doppelte Identität und verrät auch nichts anderes als diese Duplizität, ohne sie weiter zu erläutern. Und die Überschneidung der Bedeutungen macht die Plattitüde des Ortes prägnanter. Was genau wird verdoppelt? Die Identität der Elemente. Eine Ambivalenz zwischen was? Zwischen Wahrnehmung und Realität. Befinden wir uns also in diesem ständig wieder interpretierten künstlerischen topos? Nicht nur, denn der litorale Topos unseres Rundgangs ist auch doppelseitig. Scheinbar sind wir auf einer sogenannten “paradiesischen” Insel: ein globalisiertes Bild, das schon längst als Symbol für Urlaub, Nostalgie, oder gar einer Urlandschaft gilt. Die ideale, unberührte und wunderschöne Natur. Es ist das Bild von einer Insel, die sich auf keine Geografie bezieht. Es ist Fidschi, Polynesien, Hawaii, Neuseeland, die Karibik… Jedoch befinden wir uns nicht auf irgendeiner Insel, sondern wir erfahren bereits im Ausstellungstext, dass wir die pazifische Bikini-Atoll Insel betreten werden. Die zeitgenössische Geschichte dieser Insel wird uns erklärt: Von 1946 bis 1958 haben die Vereinigten Staaten dort nukleare Tests durchgeführt. Diese Information, die wir von vornherein zur Kenntnis nehmen, verschärft unseren Blick während der Ausstellung. Wir sind nicht frei von Kenntnissen, genauso wenig wie diese scheinbar zeitlose Insel nicht frei von politischer Geschichte ist. Hier liegt die Duplizität. Die allgemeine Ambivalenz. Und diese zwei Ebene implizieren viele Fragestellungen, die in die zwei Richtungen gehen und sich letztendlich wieder treffen.
Was das allererste Foto angeht; hier wurde Sand auf dem fotografischen Film gestreut. Die Radioaktivität des Sandes hat die kleinen weißen Flecken verursacht, die wie kitschige Sternchen aussehen. Ebenso aufgrund der Radioaktivität musste der Künstler die Kokosnüsse mit Blei überziehen, um sie transportieren und ausstellen zu können. So beantworten die historischen Kenntnisse einige Fragen; die Geschichte ist Teil des künstlerischen Konzepts, was zu dieser Ästhetik der beunruhigenden aber auch friedlichen Seltsamkeit führt. Es wird mit den Darstellungen des Zeitlosen und des Historischen gespielt. Wir bewegen uns in einem Raum, der politisch und symbolisch ist. Nichtsdestotrotz erzählt auch diese Symbolik des Originellen eine politische und soziale Geschichte, die eine besondere Art der Darstellung bestimmt hat.
« Et par manque de brise le temps s’immobilise, aux Marquises. Du soir montent des feux et des points de silence qui vont s’élargissant et la Lune s’avance. […] Et la nuit est soumise et l’Alizée se brise, aux Marquises. » Jacques Brel, « Les Marquises ».
„Julian Charrière, As We Used to Float“ 27.09.2018 – 08.04.2019 Berlinische Galerie, Museum für moderne Kunst Alte Jakobstraße 124–128 10969 Berlin
16 Uhr in Berlin. Es ist Ende Oktober und der Winter ist zu spüren, denn die Sonne geht fast schon unter. Ich öffne eine Tür und auch dort begegne ich der Dämmerung. Ich sehe rote Palmen in den letzten Sonnenstrahlen, einen Strand mit feuchtem und warmem Sand, das Meerwasser, wo goldene Spiegelungen leuchten. Überall glänzen kleine Splitter so wie Sternenstaub oder Pailletten, die dieser Landschaft einen fabelhaften Anblick verleihen. Oder einen kitschigen. Der Anblick sieht so sehr paradiesisch aus, dass es fast verdächtig scheint. Meine Augen vernehmen ein unbeschreibliches Quietschen. Dieses Bild ist wie eine Postkarte, deren Druck viel zu groß, deren Inhalt viel zu flach ist. Man will sich auf diesem Strand ungerne hinlegen.
Ich wende diesem Bild den Rücken zu und betrete einen dunklen Raum, wo einen Film projiziert wird. Immer noch derselbe Strand, immer noch dieselben Palmen, derselbe Sand und dieselben Farben der Dämmerung. Das Meer sieht ruhig, harmlos aus. Langsam komme ich näher zu seiner undurchschaubaren Oberfläche. Seine Bewegung scheint still und friedlich. Plötzlich taucht der Kopf ins Wasser. Auch dort ist alles ruhig. Vor mir steht ein Block Beton, dem ich mich langsam und vorsichtig nähere. Die Musik wird lauter und bedrückend. Der Rhythmus wird schneller. Ich schwimme durch ein Fenster. Der Raum ist voll mit Wasser. Davon abgesehen ist er leer. Die Musik wird ruhiger. Ich stehe wieder am Strand und schaue mir die andere Seite der Landschaft an, um zu verstehen, was diese Insel so unheimlich macht. Der Block Beton unter Wasser ließ eine Art Atlantis der modernen Zeiten andeuten. Was werden wir im Inland entdecken? Palmen. Eine üppige Vegetation. Einen Moment bleibe ich still, um zu erkennen, dass sich nichts bewegt. Bloß der Wind streichelt die Palmenblätter. Ich gehe wieder ins Wasser, unter Wasser, in den Block Beton, in den Palmenwald: Nichts. Nichts. Kein Leben, nirgendwo. Hier ist kein Leben, aber tot ist es auch nicht: Weit hinten im Wasser schwimmen kleine Fische, überall gibt es Vegetation. Es handelt sich weder um eine Dokumentation, noch um eine Fiktion, aber die Ästhetik des Films ist inspiriert von diesen zwei Gattungen, um uns dazu zu bringen, das nicht leere Nichts, in dem wir uns bewegen, hinterzufragen. Es gibt keine Handlung, keine Antwort, keine Entwicklung aber auch keine Stagnation. Auf dieser Insel spukt es nicht. Der Ort wird jedoch von einer anderen Seltsamkeit bewohnt.
Ich verlasse den Projektionsraum. Hinter dem Bildschirm befindet sich einen langen Installationsraum, in dem ich mich frei zwischen den aufgestellten Objekten bewegen kann. An manchen Stellen liegen auf dem Boden Plastiken, die an Kokosnüsse erinnern. Es ist teilweise so, als seien sie gepflückt und angehäuft. Links davon hängt ein imposanter Gegenstand, wie eine Glocke aus trockenem Holz. Doch sind die Kokosnüsse aus Blei und die Glocke aus verrostetem Metall. Das sieht man erst, wenn man nah davor steht. Ganz oben über mir hängen durchsichtige Plastikbeutel. Es sind dieselben Plastikbeutel, wie die, die man in Tierhandlungen bekommt, wenn man einen Fisch kauft. Diese hier enthalten aber nur Wasser, manchmal auch eine Alge oder ein bisschen Schlamm. Hinten im Raum thront einen Bildschirm, auf welchen ein Film projiziert wird, der mit einer reglosen Kamera aufgenommen wurde. Der Fokus liegt stets auf einer alten Schiffsschraube. Die einzige Bewegung ist die vom Wasser. Die Schiffsschraube sieht sehr groß aus, aber der Rahmen ist zu eng, um den Maßstab richtig einschätzen zu können.
In dem Rundgang, den ich hiermit noch einmal durchlaufe, ist jedes Element doppelseitig. Jede Landschaft und jeder Bestandteil der Landschaft enthält ein unbeschreibliches und unscharfes Rätsel. Das Rätsel hat mit einer Art Zwiespältigkeit zu tun. Oder vielmehr mit einer Ambivalenz. Jedes Objekt hat eine doppelte Identität und verrät auch nichts anderes als diese Duplizität, ohne sie weiter zu erläutern. Und die Überschneidung der Bedeutungen macht die Plattitüde des Ortes prägnanter. Was genau wird verdoppelt? Die Identität der Elemente. Eine Ambivalenz zwischen was? Zwischen Wahrnehmung und Realität. Befinden wir uns also in diesem ständig wieder interpretierten künstlerischen topos? Nicht nur, denn der litorale Topos unseres Rundgangs ist auch doppelseitig. Scheinbar sind wir auf einer sogenannten “paradiesischen” Insel: ein globalisiertes Bild, das schon längst als Symbol für Urlaub, Nostalgie, oder gar einer Urlandschaft gilt. Die ideale, unberührte und wunderschöne Natur. Es ist das Bild von einer Insel, die sich auf keine Geografie bezieht. Es ist Fidschi, Polynesien, Hawaii, Neuseeland, die Karibik… Jedoch befinden wir uns nicht auf irgendeiner Insel, sondern wir erfahren bereits im Ausstellungstext, dass wir die pazifische Bikini-Atoll Insel betreten werden. Die zeitgenössische Geschichte dieser Insel wird uns erklärt: Von 1946 bis 1958 haben die Vereinigten Staaten dort nukleare Tests durchgeführt. Diese Information, die wir von vornherein zur Kenntnis nehmen, verschärft unseren Blick während der Ausstellung. Wir sind nicht frei von Kenntnissen, genauso wenig wie diese scheinbar zeitlose Insel nicht frei von politischer Geschichte ist. Hier liegt die Duplizität. Die allgemeine Ambivalenz. Und diese zwei Ebene implizieren viele Fragestellungen, die in die zwei Richtungen gehen und sich letztendlich wieder treffen.
Was das allererste Foto angeht; hier wurde Sand auf dem fotografischen Film gestreut. Die Radioaktivität des Sandes hat die kleinen weißen Flecken verursacht, die wie kitschige Sternchen aussehen. Ebenso aufgrund der Radioaktivität musste der Künstler die Kokosnüsse mit Blei überziehen, um sie transportieren und ausstellen zu können. So beantworten die historischen Kenntnisse einige Fragen; die Geschichte ist Teil des künstlerischen Konzepts, was zu dieser Ästhetik der beunruhigenden aber auch friedlichen Seltsamkeit führt. Es wird mit den Darstellungen des Zeitlosen und des Historischen gespielt. Wir bewegen uns in einem Raum, der politisch und symbolisch ist. Nichtsdestotrotz erzählt auch diese Symbolik des Originellen eine politische und soziale Geschichte, die eine besondere Art der Darstellung bestimmt hat.
« Et par manque de brise le temps s’immobilise, aux Marquises. Du soir montent des feux et des points de silence qui vont s’élargissant et la Lune s’avance. […] Et la nuit est soumise et l’Alizée se brise, aux Marquises. » Jacques Brel, « Les Marquises ».