Anton Roland Laub, ein Berliner Fotograf in Arles

Als große Fotografie-Liebhaberin wollte ich schon immer mal zu den Rencontres Photographiques d’Arles gehen. Jedes Jahr verhinderte etwas Unerwartetes, dass ich dorthin ging. In Berlin, zu Beginn dieses sengenden Sommers, ein Anruf, und ich fuhr zu meinen Freunden nach Arles.

Die Stadt erstrahlt und ihre Besucher auch. An jeder Straßenecke, in Cafés, unter der prallen Sonne flüstern die Menschen, unterhalten sich oder wärmen sich auf. Ein Wort taucht immer wieder auf: „Les Rencontres“. Anfang Juli hat das Festival gerade erst begonnen. Die Stadt flüstert vor dem Rauschen ihrer unzähligen Besucher, ob treu oder neu, ob Profi oder Amateur.

Arles feiert das 50-jährige Bestehen der Rencontres. Auf dem Programm: 50 Ausstellungen. Mein Programm: vier Tage und Abende, um sie zu genießen. Les Rencontres ist ein sportliches Ereignis, sowohl körperlich als auch geistig. Welche Ausstellungen soll ich besuchen? Unmöglich, sie alle in ein paar Tagen zu sehen. Die Auswahl ist sehr schwierig. Vor allem, da uns der Zufall manchmal an einen Ort führt, von dem wir nicht dachten, dass wir ihn besuchen würden.

Am dritten Tag ist die Müdigkeit spürbar. 15 Uhr. Die Sonne scheint. Keine Brise. Ich wandere durch die Straßen und engen Gassen. Ohne Ziel. Ich habe mein Programm verloren. An der Straßenecke erscheint ein Name: FOTOHAUS | PARISBERLIN. Abseits der offiziellen Wege der Rencontres präsentiert der Verein ParisBerlin>fotogroup im Rahmen des Festivals des Voies Off  die Ausstellung Mur(s) / Mauer(n), die Fotografen aus Frankreich, Deutschland und verschiedenen europäischen Ländern zusammenbringt.

2019, 30 Jahre nach dem Mauerfall. Dies war das Symbol des Kalten Krieges, aber seit ihrem Zusammenbruch sind in einigen europäischen Ländern als Reaktion gegen die Einwanderung andere Mauern erhalten geblieben oder wurden in den letzten Jahren errichtet. 14 Mauern wurden in den letzten 10 Jahren in Europa gebaut: unter anderem zwischen Griechenland und der Türkei (2012), Ungarn und Serbien (2015), Norwegen und Russland (2016).[1] Das Thema der Ausstellung ist aktuell, politisch, sozial und intim. Im Rahmen des offiziellen Programms der Rencontres ist auch eine weitere Ausstellung mit dem Titel Les Murs du pouvoir den Mauern gewidmet, die heute in Europa stehen.[2]

Geprägt von diesem Thema schlendere ich durch die Ausstellung, die Positionen verschiedener Galerien und Künstlerkollektive zeigt. Dem alten verlassenen Gebäude, in dem die Arbeiten gezeigt werden, fehlen die Türen. Nur Kamine, Fliesen und Badezimmer haben überdauert. Das Gebäude ist riesig. Es erstreckt sich über mehrere Stockwerke. In jedem Raum, Fotografien. Zu viele Fotografien. Meine Augen haben Konzentrationsschwierigkeiten. Mir dreht sich der Schädel. Ich setze den Aufstieg fort. Ich fühle mich ein bisschen verloren. Ich weiß nicht, wohin ich gehe und was ich suche.

Und an einem dieser engen Badezimmer bleibt mein Blick hängen. Genauer: An den Fotografien des Berliner Künstlers Anton Roland Laub.

Der Raum ist so eng, dass es schier unmöglich scheint, einen Überblick der Installation zu erhaschen. Also warum bleibt mein Blick hier hängen? Neugier. Ich finde interessant und fast merkwürdig, dass alle Elemente des Badezimmers noch da sind, obwohl das ganze Gebäude leer ist. Ich bin gespannt, wie dieser Raum verwendet wird, um Fotos hervorzuheben. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Badezimmer und dem Thema der Fotografien? Wird die Atmosphäre des Badezimmers meinen Blick auf die Fotos beeinflussen?

Die auf zwei einander zugewandten Wänden verteilten Fotos scheinen schnell und grob an die Wände gehängt worden zu sein: ein einzelnes und zwei große braune Klebebänder an den Enden, etwas Konstruktionsband. Diese Hängung und der Ort heben das Thema der Fotografien von Anton Roland Laub hervor: ein Mise en Abyme. Über der Badewanne, ein Foto einer Badewanne. Das fotografierte Badezimmer ist mit einer goldenen Badewanne und einem goldenen Handtuchhalter ausgestattet, auf welchem zwei Handtücher liegen. Der luxuriöse Anblick wird durch die Fotografie einer Bronzestatuette und einer mit Pelzen gefüllten Schranks verstärkt.

Menschen sucht man vergeblich. Die Art und Weise, wie die Aufnahmen gemacht wurden, erinnert an ein Inventar, das alles in einem Raum zeigt. Sie repräsentieren kein Leben, sondern Erinnerungen, die Vergangenheit. Ist es der Ort, der ihnen diese Aura verleiht?

Das Badezimmer, in dem ich mich befinde, ist nämlich alt. Bis auf die Möbel gibt es keine persönlichen Objekte wie ein Handtuch oder eine Zahnbürste. Der Raum wurde definitiv verlassen. Diese Atmosphäre beeinflusst meine Betrachtung der Sichtweise auf die aufgehängten Fotografien.

Anton Roland Laubs Werk und der Ort erinnern mich an Urban Exploration (Urbex). Dieses Phänomen ist seit etwa zehn Jahren in Mode, zum Beispiel Berlin und seine Umgebung sind zu einer Attraktion für Urbex geworden: die verlassene Villa Goebbels am Ufer des Bogensees oder die alte Eisfabrik im Köpenicker Viertel. Viele Fotografen gehen an diese verlassenen Orte, um sie zu verewigen.

Und mein Spaziergang in diesem Gebäude gibt mir den Eindruck, dass ich in einem solchen Ort bin. Denn, außer meiner Freundin, habe ich fast niemanden im Gebäude getroffen. Das Gebäude ist in einem schlechten Zustand. Die Wendeltreppe ist fast gefährlich. Aber es gab einen Eintritt und die Ausstellung wohnt zurzeit in diesem Gebäude.

Ist es wirklich das, was Laub hier präsentiert? Es ist schwer zu sagen. Dieses Gebäude spielt wirklich viel mit meinem ersten Eindruck. Ist es eine Montage? Vier weitere Fotos zeigen zwei gekleidete Modelle: einen Mann und eine Frau. Ein Paar.

Meiner Meinung nach werden nie gekleidete Modelle, luxuriöse Objekte wie Pelze oder Bronze in einem verlassenen Ort gelassen. Die verschiedenen Objekte auf den Fotos, die Art und Weise, wie sie präsentiert werden und vor allem die beiden Modelle lassen mich denken, dass die Fotos in einem Museum aufgenommen wurden.

Die Antwort befindet sich auf der zweiten, gegenüberliegenden Wand des Raums. Laub präsentiert fotografische Porträts. Der ehemalige Diktator von Rumänien, Nicolae Ceausescu, ist erkennbar. Also verewigen diese Fotografien Ceausescus ehemalige Residenz, Palatul Primaverii. Die Residenz des Paars Ceausescu ist jedoch heute ein Museum, aus dem diese Fotos stammen. Die Eröffnung dieses Museums im Jahr 2016 war umstritten. Tatsächlich wird von den ehemaligen Bewohnern und der Diktatur nicht die Rede sein.[3]

Will Laub das unterstreichen, indem er Fotos der beiden Ehepartner präsentiert, deren Gesichter aber gelöscht sind? Der Wille, diese Vergangenheit zu vergessen?

Der aus Rumänien stammende Fotograf Laub, der heute in Berlin arbeitet, erlebte die Ceausescu-Diktatur. Um diese Fotos zu machen, ging er in den ehemaligen Palatul Primaverii. Der Titel seiner Fotoserie Of Titans and Geniuses bezieht sich ausdrücklich auf das Paar. Wie er selbst schreibt: „State artists praised Nicolae (and Elena) Ceaușescu in nationalist odes as ‘The Titan of Titans’ or ‘The Genius of the Carpathians’ „.[4]

Mit dieser Serie bezeugt der Fotograf eine Zeit unweit vom jetzt, in der Rumänien isoliert und vom Rest der Welt ausgeschlossen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Rumänien von der Sowjetunion besetzt. Von 1974 bis zu seinem Tod 1989 war Ceausescu Präsident der Sozialistischen Republik Rumänien. Ceausescus repressive Politik führte 1989 zum Aufstand des Volkes, zu seinem Todesurteil und dem seiner Frau.

Das Thema der Ausstellung ist sehr stark, weil es sehr aktuell ist. 1989 war nicht nur das Jahr des Mauerfalls, sondern auch das Jahr des Todes von Ceausescu. 2019 markiert das dreißigste Jahr seit dem Ende der rumänische Diktatur. Die Serie des Fotografen wirft Fragen über die Zukunft auf, die wir uns für Europa wünschen. Nach dem Ende der Diktatur, der Öffnung der Grenzen in Osteuropa und dem Wunsch, ein vereintes und friedliches Europa aufzubauen schließen einige Länder ihre Grenzen heute. Menschen, die aus ihrem Land mit geschlossenen Grenzen fliehen wollten, schließen heute ihre Grenzen, um zu verhindern, dass Menschen, die vor Kriegen oder Diktaturen fliehen, dort Zuflucht finden. Haben wir eine Lehre aus der Vergangenheit gezogen?

[1]Jakob, Christian. „Mauern und Zäune um Europa. Neue Monumente der Angst“ in TAZ, 9/11/2018: https://taz.de/Mauern-und-Zaeune-um-Europa/!5546699/
[2] https://www.rencontres-arles.com/en/expositions/view/766/les-murs-du-pouvoir
[3]Karasz, Palko. „At Ceausescu’s Villa, Focus Is on Décor, Not Dictatorship“ in The New York Times, June 6, 2016. https://www.nytimes.com/2016/06/07/world/europe/romania-bucharet-ceausescu-villa.html
[4] Laub, Anton Roland. https://neue-schule-fotografie.berlin/en/studies/prospects/prizes-and-publications/2019-2/of-titans-and-geniuses-in-arles/

"Of Titans and Geniuses" Anton Roland Laub
"Mur(s) / Mauer(n)", Group Exhibition, 1 -31 July 2019
Festival des Voies Off 2019, Arles
FOTOHAUS | PARISBERLIN, curated by Christel Boget

Art historian and museologist, Constance Jame co-founded the collective POKUS - Poetische Kunstkritik Berlin to defend an independent and literary art critic. In her writings, she questions the curating of artworks and the figure of the artist through art history theory, but also post-colonial and feminist theories.